„Donald Duck! Quack! Quack!“
Der Sommer von 1943 lag mitten im Zweiten Weltkrieg, denn das Ende der Kämpfe in Europa war fast genau so fern wie der Beginn, und dieser Krieg lief inzwischen auf höchsten Touren. Seit dem 18. Dezember 1941 wurde die gesamte Bevölkerung zwischen dem 18. und dem 60. Lebensjahr zu obligatorischen Einsätzen verpflichtet, wobei für diejenigen unter 51 das Militär zuständig war. Der German Blitz zerstörte weite Bereiche der Insel, teilweise reichte die Heimatfront bis tief in die Provinz. Folglich blieben die Kinder sich selbst überlassen – wie die sieben Jugendlichen im Forest of Dean an der südenglischen Grenze zu Wales. Eine Idylle? Auf Leute, die in den Heranwachsenden unschuldige Geschöpfe sehen wollen, mag das zutreffen, doch zu diesen Romantikern gehört Dennis Potter auf keinen Fall. Für solche Selbsttäuschungen war er zu klug; dazu kannte er die conditio humana zu gut. Weder beschönigte noch dramatisierte er.
Die vierzehnte Episode der neunten Staffel der prestigeträchtigen BBC-Serie „Play for Today“ beruht auf einer persönlichen Erinnerung, ohne autobiographisch im engeren Sinn zu sein. In brechtscher Manier fokussiert er das Geschehen auf sieben Jugendliche, die durch Wald und Wiesen streunen, wenn sie nicht gerade in einer Scheune hocken. Quasi in Echtzeit darf das Publikum beobachten, wie Neugier und Neid in bei den zwei Mädchen und fünf Jungen in Gier und Gewalt umschlagen, bis es definitiv zu spät ist. Dabei werden sämtliche Figuren von Erwachsenen gespielt, deren unbeholfene Choreographie, deren exaltierte Mimik und Gestik zunächst irritierend wirkt, weil sie den Klischees von geistig Behinderten gleicht. In der Vorbemerkung zu seinem Drehbuch gesteht Potter seine Aversion gegenüber Kinderdarstellern ein, allerdings ist das lediglich die halbe Wahrheit. Denn in den folgenden Absätzen betont er, die Distanz eines Erwachsenen in dem Drama gehabt haben zu wollen, in dem keine erwachsene Figur auftaucht. Wie sollten sie es denn auch? Die Verwandten sind jenseits des Kanals oder an der Heimatfront. Und im selben Moment sind sie durch die bewusst fehlbesetzten Darsteller kontinuierlich präsent. Der Bruch der realistischen Erzählhaltung im Fernsehen durch eine Form des Stream-of-consciousness gehörte zu seinen Markenzeichen: subjektive Träume, Wünsche und Halluzinationen durch arienhafte Musikzitate im Playback, das waren seine Innovationen, von denen „Blue Remembered Hills“ auf den ersten Blick abzuweichen scheint. Im Titel steckt allerdings schon die Erinnerung, die aus der theaterhaften Freiluftinszenierung eine Rückblende werden lässt, und dieser Titel stammt aus einem (im Vereinigten Königreich) berühmten Gedicht von A.E. Housman, wodurch der Film zu einer Doppelbelichtung wird: Wie sich hier die Kinder verhalten, so werden sie sich auch (erst recht!) als Erwachsene benehmen. Und erstaunlicherweise lässt die Irritation des Publikums nach wenigen Minuten nach: Der Selbstversuch wird es bestätigen.
War eben die Rede von sieben Jugendlichen? Zugegeben, das Drama zeigt sieben Figuren, aber deren Charaktere sind extrem verdichtet. Wie die Typen eines Jugendbuchs von Enid Blyton sind ihre Biographien, ihre Fähigkeiten und Eigenschaften stilisiert, damit sie sich voneinander genügend unterscheiden: Willie ist ein intelligenter, fröhlicher Junge aus dem Dorf, der dem bedrohlich arroganten Peter körperlich unterlegen ist; Raymond stottert und John träumt sich als Cowboy sein Leben zurecht, während die siebenjährigen Mädchen, die schöne Angela mit den Ringellöckchen und die schlichte Angela mit ihrem Kinderwagen, in der dunklen Scheune mit einem schmierigen, anämischen und sichtlich misshandelten Jungen Vater-Mutter-Kind spielen. Im Gegensatz zu den anderen Kindern hat dieser Junge keinen Namen: Von denen wird er nur ständig als „Donald Duck! Quack! Quack!“ gehänselt, verspottet und verachtet. Dabei hat sich Donald Duck nichts zuschulden kommenlassen; weil er sich nicht wehren kann, ist und bleibt er ein Opfer, dem niemand ernsthaft helfen will. Obwohl er am liebsten so sein will wie die anderen, obwohl er nach Anerkennung hungert und dürstet, wird ihm jeglicher Ausweg verweigert und verstellt.
Aus einer anderen Perspektive betrachtet, gleichen sich die Charaktere und werden zu Alter Egos des Ersten, der die Bühne betreten hat: Willie. Jungen wie Mädchen ringen um ihre Stellung in der Hackordnung der übersichtlichen Gruppe, kämpfen mit körperlicher Gewalt, mehrbödiger List und ihrem wenigen Besitz um den Aufstieg in der strikten Hierarchie. Willie ist keine Ausnahme, wenn es darum geht, die Kriegssituation der kostbaren Rohstoffe und des Recyclings auszunutzen, um sich einige Pennies zu erschleichen: Er kennt nämlich das Lager der gehorteten leeren Flaschen, die er mehrmals abgeben kann, wie er vor Peter stolz prahlt. Und zündeln möchte er auch gerne, sich am Tanz der heißen Flammen berauschen. Dadurch sind die Rollen keinesfalls statisch und vorhersehbar, vielmehr labil und ambivalent, weswegen aus Rivalen zunächst Gefährten, später sogar Komplizen und Verschwörer werden können; bloß das Opfer steht von vornherein fest. Dessen Schicksal scheint unerbittlich besiegelt zu sein, schon bevor es zur Grundlage eines feigen, verlogenen Paktes wird, durch den die Überlebenden ihre Köpfe aus den Schlingen ziehen wollen – und mit hoher Wahrscheinlichkeit werden sie dabei erfolgreich sein.
Nein, das ist kein beschönigtes Ende der Kindheit, kein endgültiges Erwachsenwerden wie in der Serie „The Wonder Years“ oder in dem Film „Stand By Me“ mit dem wohligen Gruselfaktor eines Stephen King. Hier wird das Publikum zu Zeugen eines Verbrechens im Sinne von Sjöwall und Wahlöö, das exemplarisch für die gesamte britische Gesellschaft steht. Wer jetzt Einspruch erheben will, weil die spätere Besatzungsmacht doch auf der richtigen Seite stand, ganze Jahrgänge in den Schützengräben und Schlachtfeldern im Kampf gegen Hitler und die Nationalsozialisten geopfert hat, der sollte innehalten und sich besinnen. Ja, dieser Gesellschaft wurde der Krieg aufgezwungen, aber so richtig gewonnen haben ihn die Tommys nicht; bei Lichte besehen, zählt Großbritannien de facto zu den Verlierern des Krieges, denn dieser Waffengang vollendete, was Anfang des 19. Jahrhunderts deutlich wurde: In Zeitlupe zerfiel eine imperiale Weltmacht, wurde zu einer von mehreren sanft belächelten Mittelmächten und verlor vollends die imaginäre Unschuld. Die mächtige Armee der Queen wurde in Südafrika von der Guerilla der Buren bloßgestellt und besudelte sich durch die ersten concentration camps; im Ersten Weltkrieg musste der Sieg erstmals der ehemaligen Kolonie, den amerikanischen Emporkömmlingen zugestanden werden; eine Schmach, die sich wie eine Farce wiederholen sollte; über Jahre waren in der Nachkriegszeit sogar Lebensmittel rationiert; der American Way of Life faszinierte die Jugendlichen durch Jazz, Filme und Comics, die ihren Idolen nacheiferten; andere benahmen sich nicht nur wie der Feind, sondern dachten und handelten auch so; zum letzten Fanal wurde jedoch die Kriminalität der Jugendlichen, die aus heutiger Sicht dürftig wirkt, während die drakonischen Urteile der Justiz unangemessen erscheinen.
Bei einer kleinen Recherche in der Kulturgeschichte tauchen unvermeidlich Referenzen für den Unfall? das Missgeschick? das Verbrechen? der Überlebenden auf, an dem das Opfer rein objektiv zumindest mitschuldig gewesen ist. Bis zur Abschaffung der Todesstrafe durch den Strang finden sich mehrere Fälle von Jugendlichen, die gehenkt wurden, wobei Verbrechen und Strafe mindestens in einem Missverhältnis standen, wenn es nicht Justizirrtümer und vollzogene Rache nach Art des Alten Testaments waren: July Ruth Ellis, Timothy John Evans, Mahmood Mattan – und besonders Derek William Bentley. Bei einem Fliegerangriff wurde Bentley als Kind verschüttet; seither blieb er wie Donald Duck geistig zurück und litt an epileptischen Anfällen. Um so zu sein wie alle, ließ er sich mit der Schieberbande der Craig-Brüder ein. Nachdem der ältere Bruder zu 12 Jahren Haft verurteilt worden war, überredete ihn der jüngere, 16jährige Christopher, 1951 zu einem Einbruch in Süd-London. Bei der Vereitelung ihres Plans durch die Polizei wurde einer der Gesetzeshüter erschossen. Der minderjährige Chris Craig wurde zu Gefängnis verurteilt, bis die Queen Gnade walten ließe; den volljährigen Bentley erwartete zwei Jahre später die Hinrichtung. Craig war beleibe kein Unschuldslamm, zu dem Verbrechen schien er mit der geistigen Kapazität eines Elfjährigen jedoch kaum fähig, obwohl er als Mittäter tief verstrickt war.
Wie in einer griechischen Tragödie ergibt sich in „Blue Remembered Hills“ eines aus dem anderen: Mit Peters drohender Forderung nach Willies leckerem Apfel gerät das Paradies ins Wanken. Den Raub des Apfels folgen die Jagd auf ein Eichhörnchen, danach gemeuchelt und sich zur Trophäe wandelt, bevor es im Wald weggeworfen wird. Wenig später wird die brennende Scheune über dem in Panik geratenen Donald Duck zusammenstürzen und ihn bei lebendigem Leib begraben. Während die Übrigen die in sich fallenden schwarzen Trümmer beobachten, werden sie sich einig: Keiner von ihnen wäre bei der Scheune gewesen, sie waren alle woanders. Schon läuft der Abspann, unter dem die Stimme von Dennis Potter als körperlose, ferne Stimme die ersten acht Zeilen von Housmans gleichnamigem Gedicht rezitiert. Das Geschehen lässt sich weder aufhalten noch rückgängig machen: Das Paradies liegt (frei nach John Milton) auf ewig in Asche, die Sünde ist in der Welt.
Britta Madeleine Woitschig (01/10)
Play for Today: Blue Remembered Hills, UK 1979, Drehbuch: Dennis Potter, Produktion: Kenith Trodd, Regie: Brian Gibson, FSK: ohne Freigabe; Originalfassung-Rating: ab 12, 72 Minuten, mit Colin Welland, Michael Elphick, Robin Ellis, John Bird, Helen Mirren, Janine Duvitski, Colin Jeavons