3. Januar 2010

Alles über Lebensbeschreibungen

 

Es gab einmal eine Zeit – und sie ist noch gar nicht so lange vorbei –, da waren die Schreiber von Biographien als „Heldenfriseure“ verschrieen. Grund genug, einmal bei einem Friseur-Spezialisten nachzufragen: Wolfgang Bauer (Ein fröhlicher Morgen beim Friseur, Theaterstück). Bauer schrieb 1973 u.a. für die Steiermark-Ausgabe der Kronenzeitung, am 24.10.1973 präsentierte er dort die Glosse „Wolfis neue Zeitung“. In ihr beklagt er sich über die Langweiligkeit der Sensationslüsternheit von Zeitungen und präferiert den Einzug einer neuen Normalität, um wieder etwas Pfiff in die Presse zu bringen. Das läse sich dann so:

 

„Frau Meier wieder genesen!“

Gestern in den frühen Morgenstunden läutete bei der allseits unbekannten Olga M., wohnhaft in der Roseggerstraße 87, der Wecker. Frau M. war unbekannterweise schon längere Zeit an einer Grippe erkrankt und hatte leichtes Fieber gehabt. Gestern früh jedoch fühlte sie sich erstmals wieder in einer guten körperlichen Verfassung und konnte laut Aussagen einer älteren Bekannten, der Frau Mühlbüsch, wieder aufstehen und im Zimmer herumgehen...

 

Obzwar Wolfgang Bauer der hier vorgestellten Person immerhin einen Namen zuspricht (Frau Meier), handelt es sich bei ihr wohl doch eher um das Schicksal einer „Namenlosen“ (der Fortgang der Zeitungsnotiz geht in diese Richtung). Bereits am Ende des 19. Jahrhunderts (eben dem der „Heldenfriseure“) gab es allerdings eine mutige Intervention eines gewissen Richard Maria Werner für eine „Biographie der Namenlosen“: „Jedes Menschenleben“, so Werner 1895, „verdient eine Erzählung“. Letztlich ist aber Werner noch nicht so weit wie Bauer, denn zuletzt interessieren ihn die einzelnen Namenlosen keinen Deut, sein Erkenntnisinteresse ist auf den Typus gerichtet, denn die Leben der kleinen Leute unterschieden sich nicht sonderlich, „so dass eine Biographie mit geringen Modifikationen für viele Menschen passen würde“.

 

Im Raum steht hier natürlich das Thema der Biographiewürdigkeit. Wer ist es wert, dass man sich auf seine Spuren begibt, um etwas zu schreiben, das viele zu interessieren vermag. Keine Frage, „Wolfis neue Zeitung“ erschiene wohl nur einmal. Und dennoch. Gerade in den letzten Jahrzehnten, im Zuge von Feminismus, Gender- und Postcolonial-Studies, hat sich biographiologisch ein Interesse am vormals „Geringen“ gezeigt. Insofern ist Werners Würdeformel aktueller denn je. Zugleich ist das Interesse an Biographie (das gilt für Deutschland etwa und für Frankreich) seit einigen Jahren wieder erheblich gestiegen. Die Zeit, in der es für einen Wissenschaftler rufschädigend war, eine Biographie zu schreiben, ist passé.

 

Das liegt auch daran, dass die Zeit vorbei ist, in der man an so etwas wie den „Tod des Autors“ glaubte (selbst Barthes widerrief diesen Irrglauben). Strukturalismus auf der einen Seite, Sozialgeschichte auf der anderen ließen es nicht sonderlich attraktiv erscheinen, sich mit dem Leben Einzelner abzugeben. Ob bekannt oder unbekannt. Jeder war nur eine ephemere Konstellation einer alles überragenden Struktur, die allein beschreibungswürdig war. Vielleicht war es das spielerische Element innerhalb der Postmoderne selbst, das erneut die Hinwendung zum Biographischen ermöglichte, zugleich selbstreflexiv und augenzwinkernd. Was aber ist überhaupt eine Biographie? Dieses Handbuch geht nicht von einer Initialdefinition aus und bietet im Grunde zwei Handbücher in einem, da eben kein Sonderfall prävaliert wird (Heldenbiografie, oder eben: die Biographie des kleinen Mannes), sondern Biographie verstanden wird als „textuelle Repräsentation eines Lebens“, oder, da darunter auch noch die Autobiographie fallen würde, als: „mediale Repräsentationen anderer Leben“.

 

In acht Großkapiteln versucht dieses Handbuch, dem Aufschreiben des Lebens anderer auf die Spur zu kommen. Das Wort „Biographie“ selber ist Gegenstand der Analyse (im Grimm’schen Wörterbuch etwa findet man dieses Lemma noch nicht, dafür aber das Synonym der „Lebensbeschreibung“), der Begriff ist in unterschiedlichen Zeiten und verschiedenen Kultur ein jeweils anderer. Während im anglo-amerikanischen Bereich die Biographie eine sehr angesehene Disziplin ist, kann man sich etwa in Frankreich als Biograph keine Sporen verdienen. In Deutschland galt die Biographie bis ins 19. Jahrhundert als Literatur. Erst im 20. Jahrhunderts kam es zu einer Theoretisierung des Hybridwesens Biographie, das eben weder reine Literatur war und ist noch ausschließlich ins Fach der Historiographie gehört. Berechtigterweise finden sich literaturwissenschaftliche Termini wie etwa die Unterscheidung von „Histoire“ und „Discours“ auch auf dem Feld der Biographie wieder. Denn nicht nur, „was“ erzählt wird, entscheidet über den Erfolg oder die Qualität, sondern auch das „Wie“. Und das gilt sowohl für die literarische Biographik als auch für die wissenschaftliche Biographik.

 

Allerdings ist auch wahr, dass das Biographieschreiben nicht jedes Jahrzehnt neu erfunden wird; das sieht man etwa über die Bande an der „Topik der Werbung“, die mittlerweile über ein Repertoire der Bestandsaufnahme verfügt, dass man sich fragt, was denn da kommen müsse, damit einmal nicht eben genau die „Beschreibungen“ und „Bewertungen“ abgerufen werden, die nur darauf zu warten scheinen, in Anschlag gebracht zu werden. Ein spannendes Kapitel ist das das Handbuch abschließende zu „Rechtsfragen des Biographieschreibens“. Wenn bereits Romanciers massiv Probleme bekommen, wenn sie gewisse Praktiken fiktional präsentieren und diese von etwaigen Betroffenen wiedererkannt werden, was zu Klagen betreffs des Eingriffs in Persönlichkeitsrechte führen kann (Esra), müssen Biographen besonders darauf achten, was von Interesse sein kann (und darf) und was nicht (das gilt natürlich vor allem für Zeitgenossen). Dass biographisches Erzählen auch im Zeitalter des Internets digital anschlussfähig ist, zeigt ein eigenes Kapitel. Biographien sind „in“; dieses Handbuch vermag (auch) zu zeigen, warum das so ist.

 

Dieter Wenk (12-09)

 

Christian Klein (Hrsg.), Handbuch Biographie. Methoden – Traditionen – Theorien, Stuttgart-Weimar 2009 (J.B.Metzler)

 

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