30. Dezember 2009

Persische Elegien

 

Nach den iranischen Präsidentschaftswahlen im Juni dieses Jahres kam es in dem Land zu wochenlangen Protesten. Erstmals seit den revolutionären Umbrüchen 1979, als die Mullahs das Land überfallartig eroberten und sich ein schwarzer Schleier der repressiven Orthodoxie über den Iran legte, wagten es die Iraner, lautstark ihre Stimme zu erheben. Selbst die gewalttätigen Reaktionen des Regimes Ahmadineschad konnten den Protest lange nicht zurückhalten.

Zu etwa gleicher Zeit erschien der neue Roman des iranischen Autors Mahmud Doulatabadi „Der Colonel“. Dieser handelt vom Schicksal einer Familie kurz nach der Revolution im Iran 1979. Der bereits vor 25 Jahren geschriebene, aber erst jetzt erschienene Text wurde von den Kritikern über alle Maßen gelobt, denn kein anderes literarisches Werk schien derart aktuell. Die Literaturkritiker sahen in den jüngsten revolutionären Protesten im Iran die Erzählung des Romans bekräftigt. Zugleich schien der Roman in tautologischer Umkehrung die iranische Gegenwart in ihrer unmenschlichen Gewalt und Skrupellosigkeit zu bestätigen.

In einem Interview mit der Tageszeitung taz erklärte Doulatabadi kürzlich, dass er den Roman so lange zurückgehalten habe, um genau diese Lesart zu verhindern. Man solle das Werk nicht „zu direkt auf die politische Situation“ hin lesen, meinte Doulatabadi. Die in Anlehnung an die politischen Ereignisse gestaltete Literaturkritik des Sommers stieß bei dem Autor also auf gemischte Gefühle. Denn nicht zuletzt dieser politisch motivierten Lesart ist es zuzuschreiben, dass die iranische Zensurbehörde das Buch einerseits als Meisterwerk bezeichnen kann, andererseits aber aus ideologischen Gründen seine Veröffentlichung im Iran untersagt.

Doulatabadi spürt, dass diese politische Interpretation, die sowohl von den westlichen Kritikern als auch von den iranischen Zensurbeamten aus unterschiedlicher Motivation vorgenommen wird, dazu führen kann, dass sein Lebenswerk in seiner Heimat ungelesen bleiben könnte. Die Zensur würde also ausgerechnet den populärsten Gegenwartsdichter im Iran am härtesten treffen. Aus diesem Grund plädiert er wohl für eine vorrangig literarische Annäherung an seinen Roman: „Literatur sollte nicht auf die aktuelle Tagespolitik reduziert werden. Die Presse ist für die aktuelle Berichterstattung zuständig, die Aufgabe von Literatur ist eine andere“, erklärt der Iraner gegenüber der taz weiter. Versuchen wir, diesem Ansatz nachzugehen und Doulatabadis Roman unabhängig von den aktuellen politischen Verhältnissen zu beurteilen.

Mahmud Doulatabadi erzählt in seinem Roman die Geschichte eines ehemaligen iranischen Regierungsbeamten, der unter dem Schah gedient hatte und dessen Identität lange Zeit im Dunkeln bleibt. Die meiste Zeit wird er nur als „Colonel“ bezeichnet. Erst am Ende des Romans wird sein Name genannt, Mohammed Taghi Khan. Schon in diesem Namen verarbeitet Doulatabadi die komplexe Geschichte seines Landes. Mohammed Taghi Khan erscheint wie ein Kompositum der Namen großer iranischen Staatsmänner, nämlich dem des Gründers des modernen Irans Mirza Taghi Khan und dem des Kämpfers für die iranische Unabhängigkeit Mohammed Mossadegh.

Die Rahmenhandlung des Romans ist schnell erzählt. Der Colonel wird an einem verregneten Abend informiert, dass eine seiner beiden Töchter ums Leben gekommen ist und er sie nun beerdigen muss. Er hat solange Zeit, wie die Nacht ihre Schatten über die Stadt legt, denn der Tod seiner Tochter soll ein geheimer Tod bleiben. Es ist der Tod in den Folterkammern eines skrupellosen Regimes. Während der Colonel mit der Beerdigung seiner Tochter befasst ist, wird er von den Geistern seiner Familie heimgesucht. Kaleidoskopisch berichtet Doulatabadi so in Rückblicken von den Schicksalsschlägen einer Familie, die zwischen den Mühlsteinen der Revolution aufgelöst wird. Die Erzählzeit dieser Rahmenhandlung beträgt weniger als 24 Stunden. Die erzählte Zeit des Romans erstreckt sich nahezu über die gesamte Geschichte des Irans im 20. Jahrhundert.

Die Rückblenden sind die bruchstückhaften Erinnerungen des Colonels an die Schicksale seines Vaters und seiner Kinder, die in den reißenden Fluss der unterschiedlichen politischen und ideologischen Strömungen während der Iranischen Revolution 1979 geraten sind. Metaphorisch überträgt Doulatabadi die Brüche zwischen den Generationen und den politischen und religiösen Glaubensrichtungen auf die kleine Welt einer Familie. In diesem Mikrokosmos entladen sich die Konflikte zwischen Nationalisten, Royalisten, Liberalen und religiösen Fundamentalisten. Der Zerfall der Familie symbolisiert die Auflösung der iranischen Gesellschaft. Die damit verbundenen Schicksalsschläge und Zwänge symbolisieren das gegenseitige Hauen und Stechen in einer Gesellschaft, in der eine klare Trennung zwischen Tätern und Opfern nicht mehr möglich ist, denn nahezu jede Generation hat ihren Gewaltausbruch erlebt. Worte wie Menschlichkeit, Schonung oder Gnade haben in einer solchen Welt ihre Bedeutung verloren.

Zu seinen Kindern drang der Colonel als Repräsentant des alten Regimes schon lange nicht mehr durch. Die Tatsache, dass er dem Schah-Regime treuer Diener war, hindert ihn jedoch nicht daran, Verständnis für den Aufruhr und die Empörung seiner Kinder zu haben. „Und in Zeiten der Revolution sucht jeder seinen eigenen Vorteil. Es sei denn, man ist noch jung. Junge Menschen haben nicht nur ihren Vorteil im Auge. In Zeiten der Revolution suchen sie ihre eigene Wahrheit, ihre eigene Lebenswahrheit.“ Unterstellt Doulatabadi der Revolution also die Chance der Selbstverwirklichung, der gesellschaftlichen Selbstfindung? Möglicherweise. Aber vor allem Revolution attestiert er der Revolution eine unglaublich starke Realität, die in das Leben derjenigen eindringt, die sie erleben. Die das Leben und Erleben nicht nur verändert, sondern auch beendet – und damit neue Traurigkeit und Wut schafft, um die Gewaltspirale weiter nach oben zu schrauben.

Doulatabadi macht diesen Gewalt produzierenden Mechanismus von Liebe und Hass in einer Szene besonders greifbar. Darin erinnert sich der Colonel daran, wie einer seiner Söhne den gewaltsamen Tod seines Bruders erleben muss und er beobachtete, wie der Hass gegen die Welt in seinem Sohn hochstieg und sich auf die übrigen Geschwister übertrug. Eine Szene, die die Simplizität der Geburt von Wut und Fanatismus bezeugt. „Er kniete neben dem Leichnam seines Bruders, beugte sich über ihn, küsste sein blutiges Hemd, und als er sich wieder erhob, sah ich, wie Flammen aus den Augen meines Sohnes loderten, wie seine Wangen glühten. […] Ich sah, wie das Feuer die Herzen jedes meiner Kinder ergriffen hatte.“ Dieser sachlich unverstellte Blick auf die Ereignisse liegt dem Leser wie ein zentnerschwerer Stein auf der Brust.

Die eindringlich nüchterne und unausweichlich direkte Sprache verleiht Doulatabadis Roman seine Kraft. Zu keinem Zeitpunkt trübt die nackte Wut oder Empörung die Erinnerungen des Colonels und damit die Sprachgewalt dieser ergreifenden Literatur. Dieser neutrale Ton lässt ihn die Atmosphäre der Beklemmung, der Unterdrückung und der Angst im post-revolutionären Iran geradezu physisch spüren. Bahman Nirumand gebührt mit seiner hervorragenden Übertragung des Romans ins Deutsche dafür höchstes Lob.

In der Literaturgeschichte ist die allgegenwärtige Unruhe namens Tod in dieser Intensität nur aus der Lagerliteratur bekannt. Warlam Schalamow, Primo Levi, Jorge Semprun sind die Autoren, die einfallen, wenn es darum geht, durch die nüchterne Betrachtung der gegebenen Umstände zu einer höheren und eindringlicheren Wahrheit zu gelangen. In die Reihe dieser Autoren reiht sich Mahmud Doulatabadi mit seinem Roman „Der Colonel“ ein, in dem ein ganzes Volk metaphorisch zum Lagergefangenen einer religiösen Idee gemacht wird und jeder um das eigene Überleben kämpft; in dem Werte wie Humanität, Solidarität und Anstand abfallen und die allgegenwärtige Todesdrohung umso greifbarer und gegenwärtiger wird.

Die Kinder des Colonels haben sich gegen das repressive Schah-Regime gewendet, die einen zu den demokratisch orientierten Modernisierern, die anderen zu den fundamentalistisch eingestellten Religiösen. Zwischen diesen Fronten wurde die Familie aufgerieben, so dass Mohammed Taghi Khan oft nicht mehr blieb, als die Nachrichten vom Tod seiner Kinder in stummer Trauer entgegenzunehmen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass er mit Verbitterung auf deren Aufruhr zurückblickt. „Oh, meine Kinder. […] Wenn wenigstens einer von Euch an sich selbst denken würde! Warum wollt ihr denn die ganze Last der Geschichte tragen?“ Dieses Hadern mit dem Schicksal seiner Kinder ist ein Zweifeln mit dem eigenen Schicksal. Zugleich ist es die Geschichte einer ganzen Generation, die aufgrund der selbst begangenen Verfehlungen verpflichtet war, stillzuhalten und das aktuelle und künftige Leid um sie herum zu erdulden. „Mit eigenen Händen müssen wir unsere Kinder begraben, das ist der Befehl, aber weit erschreckender ist, dass aus diesen Verbrechen eine Zukunft wächst, in der kein Zeichen mehr von Wahrheit und Menschlichkeit lebt.“

Doulatabadis Roman ist so ein düsterer Totentanz, in dem die Dahingeschiedenen, zu Tode Gefolterten und in den Tod Getriebenen keine Ruhe geben. Mit diesem Geisterkabinett erzählt Doulatabadi die jüngere Geschichte seines Landes als ständige Wiederholung von Fanatismus und Gewalt. Seine Erzählung ist in ihrer Reichweite daher nicht nur ein Kaleidoskop der iranischen Revolution, sondern ein gesellschaftspolitisches Panorama des Irans im 20. Jahrhundert.

Daraus ergibt sich die Bedeutung des Romans über die Literatur hinaus? Doulatabadis „Der Colonel“ ist in seiner Handlung und Sprache ebenso aktuell wie historisch. Der innere Stillstand Irans, dieser unaufhörliche Kulturkampf repressiver Regime gegen die Moderne, lässt den Roman selbst 25 Jahre nach seiner Niederschrift aktuell erscheinen. Der rückwärtsgewandte, religiöse Eifer der Mullahs ist mit der Zeitlosigkeit des Romans eine unbeabsichtigte symbiotische Beziehung eingegangen. Es war wohl die Hoffnung Doulatabadis, dass sein Roman Jahrzehnte nach der Revolution ausreichend Abstand zur Tagespolitik hat, um als literarisches Vermächtnis bewertet werden zu können. Die Ereignisse des Sommers haben ihm einen Strich durch diese Rechnung gemacht. Die Handlung des Romans hat einen Generationensprung vollzogen. Sie ist von der Realität eingeholt und auf makabre Weise wiederholt worden.

Die jüngsten Proteste im Iran erzählen die Geschichte des Colonels neu – gerade deshalb wurde das Buch von der Kritik derart gelobt. Doulatabadis Literatur wurde triumphierend seherische Kraft unterstellt, doch letztlich ist die Wiederholung der tragischen Geschichte Irans in den jüngsten Gewaltausbrüchen eher eine traurige Bestätigung von Doulatabadis Befürchtungen, die er bereits vor einem viertel Jahrhundert seinem Land attestiert hat. Gerade deshalb greift seine Bitte, den Roman als literarisches Werk zu lesen, das mit der politischen Situation im Land nichts zu tun hat, ins Leere. Denn der Kritiker kann nicht den Aspekt ignorieren, dass ein historischer Roman zum Gegenwartsroman wird – ob der Autor das will oder nicht. Nichts macht dies deutlicher, als die folgenden Worte aus Doulatabadis Roman, die ebenso gut von einem der protestierenden Iraner dieses Sommers stammen könnten: „Ich bin fremd im eigenen Haus. Die gesamte Geschichte unseres Landes ist im Grunde nichts anderes: Die Katastrophe, im eigenen Haus fremd zu sein.“

 

Thomas Hummitzsch

 

Mahmud Doulatabadi: Der Colonel. Aus dem Persischen und mit einem Nachwort von Bahman Nirumand. Unionsverlag. Zürich 2009. 222 Seiten. 19,90 €. ISBN: 3293004024

 

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