6. November 2003

„Mange ton Dasein!“

 

Je älter man wird, desto schlechter lässt sich’s analysieren. Aus den zarten, traumhaften Pfaden der Verzweigung werden die gediegenen Betonpisten des Neurotikers, der nur noch ungern Zwischenstopps einlegt, weil er weiß, dass das bekannte und daher berechenbare Unglück zu Hause auf ihn wartet. Umgekehrt beschleunigt der Analytiker das Tempo, weil er eh weiß, wohin der Hase läuft. So wurden mit der Zeit aus Sitzungen Kurzsitzungen und Kürzestsitzungen, letztere zudem mit dem unschlagbaren Vorteil, überall abgehalten werden zu können. Nicht darf allerdings verschwiegen werden, dass sich dieser Vorteil einem Zwang verdankt, zumindest im Fall Dr. Hannibal Lecters, der in einem US-amerikanischen Staatsgefängnis einsitzt und seit acht Jahren seine Zelle nicht mehr verlassen hat. Als Kannibale weiß er, was es heißt, kurzen Prozess zu machen.

Ob nun der Kannibale den Analytiker befruchtet hat oder umgekehrt, beide sind absolute Profis und arbeiten Hand in Hand. Bei Lecter ist alles lebenslänglich, die Strafe, die Ernährungsweise und die Berufung. Er ist immer präsent, es gibt kein Abschlaffen, nichts entgeht ihm und in der hintersten Zelle ist er ebenso gut informiert wie der gewöhnliche Zeitungs-Abo-Leser. Aber sein Kopf greift nicht nur auf Ereignisse in der Vergangenheit zurück, seine größte Leistung ist die Antizipation. Er muss nur auf den Spalt warten, von wo aus er wieder als Gestalter ins pralle Leben eintreten darf, das für ihn vielleicht ebenso eintönig ist wie die Zelle, aber der Zuschauer weiß, dass weder die Zelle eintönig noch das Leben prall sind, denn wo auch immer Lecter sich aufhält, bestimmt er den Konzentrations- und Unterhaltungsgrad der Situation. Der Analytiker Lecter hat Schluss gemacht mit dem Gesellschaftsvertrag, er autorisiert sich nur noch durch sich selbst. Er bezahlt einen hohen Preis, aber mit der Hoffnung auf „Aussicht“ kann er gut leben. Er ist vielleicht einzigartig, aber er ist nicht alleine. Solange die Monster auf der anderen Seite des Gitters von sich reden machen, wird man ihn nicht vergessen. So bleibt er im Gespräch. Je länger er weggeschlossen bleib, desto mythischere Züge nimmt er an. Die gute andere Seite weiß, dass sie ihn nicht einfach als Informationsquelle benutzen kann. Wenn sie dies doch versucht, macht er dicht. Nicht er steht unter Zugzwang. Es muss also um Tausch gehen. Quid pro quo, wie es der Doktor in seiner unnachahmlichen Art sagt.

Und Clarice Starling lernt schnell. Und sie hat auch noch was davon. Denn seinen eigenen Patienten bringt man nicht um. Immunisierung durch Vertrauen. Aber das Tauschobjekt ist auf jeder Seite ein anderes. Nur der Doktor weiß um das Wunder der Verlagerung. Das Zimmer mit Aussicht ist keine blöde romantische Metapher. Es ist der Anlass zu einem sehr wirklichen Transport, der aus Hoffnung Wirklichkeit werden lässt. Lecters Analysen sind knallhart, noch in der Mumifizierung ist Kür zu spüren. Wie erst in der frisch gewonnen Beweglichkeit. Die Anverwandlung an das andere Monster in der Behandlung beider Polizisten, der aufgespannte und der abgespannte (gehäutete), das Arrangement der Körper samt Auferstehung des Toten, zum Schluss die vestimentäre Verlarvung vor dem ersten Mahl in Freiheit: „Iss dein Dasein!“

 

Dieter Wenk

 

<typohead type=2>Jonathan Demme, Das Schweigen der Lämmer (The Silence of the Lambs), USA 1990</typohead>