20. Dezember 2009

Die Kraft der Worte


Während Russland im Terror versinkt, versucht ein Dichter dem Diktator Stalin die Stirn zu bieten – mit seinen Worten. Was wie ein Superheldenroman klingt, ist eine einfühlsame Hommage an Ossip Mandelstam und seine Frau Nadeshda.

Unterschiedlicher können die Charaktere kaum sein, die Robert Littell zu den Hauptakteuren seines neuen Romans gemacht hat. Auf der einen Seite der feinfühlige und sprachsensible russische Dichter Ossip Mandelstam, auf der anderen der erbarmungslose und menschenfeindliche Despot Josef Stalin. Beide begegnen sich in „Das Stalin-Epigramm“ für ein Gespräch im Kreml, nachdem Mandelstam vom russischen Geheimdienst wegen der Verbreitung antirussischen Gedankenguts festgenommen und inhaftiert wurde. Sie reden dabei nicht über Stalins Gräueltaten, sondern über die Macht des Wortes, dessen Meister Mandelstam ist.

Ossip Mandelstam ist einer der wenigen Dichter, die noch bis in die 1930er Jahre publizieren durften. Nikolai Bucharin setzte sich als Chefredakteur der „Istwestija“ und Vorsitzender der Komintern für seine Dichtkunst ein, solange sie Stalins Machtapparat noch nicht offensichtlich angriff. Doch die Eindrücke, die Ossip Mandelstam 1934 auf einer Reise zum Schwarzen Meer sammelt, führen dazu, dass sich der Dichter in seinen Texten immer deutlicher und direkter gegen den Stalinismus und die Entkulakisierungspolitik des obersten Sowjets wendet. Besonders deutlich wird dies in seinem Epigramm gegen Stalin mit dem Titel „Wir Lebenden spüren den Boden nicht mehr“, in dem er sich deutlich gegen Stalins skrupellose Politik der Säuberungen und Kollektivierungen wendet.


Wir Lebenden spüren den Boden nicht mehr,
Wir reden, dass uns auf zehn Schritt keiner hört,

Doch wo wir noch Sprechen vernehmen, -
Betrifft's den Gebirgler im Kreml.

Seine Finger sind dick und, wie Würmer, so fett,
Und Zentnergewichte wiegts Wort, das er fällt,

Sein Schnauzbart lacht Fühler von Schaben,
Der Stiefelschaft glänzt so erhaben.

Schmalnackige Führerbrut geht bei ihm um,
Mit dienstbaren Halbmenschen spielt er herum,

Die pfeifen, miaun oder jammern.
Er allein schlägt den Takt mit dem Hammer.

Befehle zertrampeln mit Hufeisenschlag:
In den Leib, in die Stirn, in die Augen, - ins Grab.

Wie Himbeeren schmeckt ihm das Töten -
Und breit schwillt die Brust des Osseten.



Dieses Gedicht, viel mehr Ausdruck abgrundtiefen Hasses als Resultat überlegt geduldiger Poesie, steht im Mittelpunkt von Littells Tatsachenroman. Der amerikanische Autor bedient sich dabei der zahlreichen Gerüchte um Mandelstams letzte Lebensjahre mit seiner Frau und Werkverwalterin Nadeshda und den erwiesenen Verbindungen zu zahlreichen prominenten Vertretern der russischen Intelligenz wie Boris Pasternak, Anna Achmatowa oder Nikolai Bucharin. Mandelstam unternahm die Reise, die in „Das Stalin-Epigramm“ den Ausgangspunkt der Erzählung darstellt, tatsächlich. Anfang der 1930er Jahre fuhr er nach Armenien und brachte zahlreiche Impressionen aus dem bitterarmen Landstrich des sowjetischen Großreichs mit. Er sah Bauern, die einstmals der ganze Stolz des Landes waren, deren Felder nun schon Monate vor seiner Ankunft brachlagen und die den Dichter um einen Kanten Brot anbettelten. Statt dem propagierten stolzen Sowjetbürger begegnete Mandelstam fast ausschließlich Menschen in absoluter Armut.
„Wir Lebenden spüren den Boden nicht mehr“ war seine Reaktion auf diese Erfahrung, ein Schrei der Wut und Empörung. Obwohl sich Mandelstam der Gefahr bewusst war, in die er sich damit begab, konnte er diese Zeilen nicht unterdrücken. Sie waren der Auftakt der unerbittlichen Auseinandersetzungen des russischen Dichters mit dem „Gebirgler im Kreml“, eine Anspielung auf Stalins georgische Herkunft. Mandelstam wurde für diese Zeilen festgenommen und nach einem Selbstmordversuch zu drei Jahren Verbannung in Woronesch verurteilt. Stalin erkundigte sich angeblich höchstpersönlich über Mandelstams Zustand in der Verbannung bei dessen Freund und Kollegen Boris Pasternak. Nur kurz kehrte Mandelstam noch einmal nach Moskau zurück, wurde erneut verhaftet und starb im Dezember 1938 in einem Übergangslager auf dem Weg in den „hohen Norden“, wie der sibirische Gulag in Russland genannt wurde.

Diese Biografie, um die sich mindestens ebenso viele Gerüchte ranken, wie eindeutige Fakten bekannt sind, macht sich Robert Littell zunutze, um eine spannungsreiche Hommage an den Dichter Mandelstam und dessen treue Ehefrau Nadeshda zu schreiben, in die er zahlreiche Zeitgenossen mit einbezieht. Dies sind neben den bereits erwähnten der sowjetische Gewichtheber Fikret Schotman, Stalins Leibwächter Nikolai Wlasik und die Theaterschauspielerin und Geliebte Mandelstams Zinaida Zaitsewa- Antonowa. Diese Personen bilden keineswegs das notwendige Beiwerk eines um Mandelstam herum orchestrierten Romans. Erst aus ihren Perspektiven entsteht das Bild, das sich der Leser von Mandelstam und dem Kampf eines Dichters gegen Stalin machen kann.

Auf der Basis der vor 30 Jahren geführten Gespräche mit der Witwe des russischen Dichters versucht Littell in seinem Roman, die Ereignisse zwischen 1934 und 1938 nachzuvollziehen. Dabei ist dem Amerikaner eine Erzählung gelungen, die das Rätsel um Ossip Mandelstam ein wenig enthüllt und zugleich bewahrt. Höhepunkt ist darin die fiktive Begegnung von Mandelstam und Stalin, in der der Kampf um die Deutungshoheit der Macht erbittert ausgefochten wird. Robert Littell macht durch die Erfindung dieser Begegnung eines völlig klar: Bei aller terroristischen Gewalt war die Kraft des Wortes die einzige, die den georgischen Despoten und Menschenschlächter hätte in Gefahr bringen können.

Im Gegensatz zu dem Mandelstam-Biografen Ralph Dutli ließ die Witwe des russischen Dichters die Frage offen, ob sich Mandelstam und Stalin jemals begegnet sind: „Mandelstam hat Stalin sicherlich getroffen. Ob diese Treffen allerdings im Kreml, in einer Datscha oder nur im Kopf des Dichters stattgefunden haben, müssen sie selbst entscheiden“, sagte Nadeschda Mandelstam 1979 zu Robert Littell.

Littells Roman reicht nicht an die Literatur eines Warlam Schalamow heran. Zu wenig spielt die Handlung in der kalten Umgebung des Gulag, und zu lebensfreundlich ist die Welt, von der er schreibt. Es fehlt es nicht an physischen Grausamkeiten, sondern an existenzialistischer Bedrohung. Warlam Schalamow schrieb in seinen „Erzählungen aus Kolyma“, dass der inhaftierte Intellektuelle „vom Lager ausgelöscht“ wird und von ihm in kürzester Zeit Zivilisation und menschliche Kultur abfallen. Dies geschieht bei Littell nicht.  
Mandelstam bleibt bis zuletzt der unbeugsame, fast furchtlose Kontrahent, der selbst im Angesicht seines größten Feindes kaum Schwächen zeigt. Dies kann man bewundernswert finden, zugleich verliert der Roman dadurch etwas an Glaubhaftigkeit.

Andererseits ist es Littell gelungen, die Atmosphäre der permanenten Überwachung und des täglichen Terrors in seinem Roman umzusetzen und im Verhalten der übrigen Personen zu spiegeln. So beschreibt der Autor ein Russland, in dem das Leben des Einzelnen im Schatten des paranoiden Verfolgungswahns Stalins stand: „Niemand ist unschuldig, Wlasik. Nicht Mandelstam, nicht Pasternak, diese Hure Achmatowa nicht, Bucharin nicht und nicht mal Sie. Niemand.“ Hier ist der Autor, bekannt für seine Spionagethriller, in seinem Element.

Dieses Buch, dessen Stoff er bereits seit 30 Jahren mit sich herumträgt und in Ansätzen in seinen zahlreichen Agententhrillern verarbeitet hat, ist nichts Geringeres als sein Lebenswerk, denn er verbindet darin sein jahrzehntelang gesammeltes Wissen zur russischen literarischen Avantgarde mit seinem außerordentlichen Geschick, packende Geschichten zu erzählen. Littells Roman ist nicht, wie so oft, ein Thriller mit politischer Aussage, sondern vielmehr das Dokument einer Huldigung, eine Ode an die Sprache und Dichtung und die Kraft, die im Wort verborgen liegt.

Thomas Hummitzsch

Robert Littell: Das Stalin-Epigramm. Aus dem Amerikanischen von Werner- Löcher Lawrence. Arche-Verlag. Zürich 2009. 400 Seiten. 22 Euro. ISBN: 37160262 20.

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