5. Dezember 2009

Wie Maßstäbe gesetzt werden

 

Obwohl der Titel wegen seiner Thematik seit Monaten auf meiner Prioritätenliste ziemlich weit oben stand, habe ich wiederholt gezögert, weil mich ein Detail gestört hat. Dieses Ärgernis findet sich in der ästhetischen Gestaltung des Umschlags: Weder die Magritte-Variation mit dem Batman-Motiv von Joann Sfar noch der fehlende Hinweis auf den Verlag waren die Ursache, sondern die Typografie des Untertitels in der Schriftart Comic Sans. Im visuellen Bereich gibt es kein schlimmeres Kassengift als diese schon länger als ein Jahrzehnt verrufene Ikonografie des alphanumerischen Zeichensatzes. Trotz dieses selbstmörderischen Hindernisses liegt der 2007 erstmals veröffentlichte Band schon im Jahr darauf in der zweiten Auflage vor, für den überwiegenden Teil der Sekundärliteratur zu Comics ein schier unmögliches Unterfangen. Dass der Studie von Bart Beaty dieses Kunststück gelungen ist, weist auf eine Qualität hin, die besondere Aufmerksamkeit verdient.

 

Seit 1997 beschäftigt sich der Professor als Calgary für die renommierte Fachzeitschrift „The Comics Journal“ mit europäischen Comics. Als Kanadier hat er einerseits einen leichteren Zugang zu den Werken in den zahlreichen nichtenglischen Sprachen, andererseits verhindert eine nicht allein topografische Distanz, dass er wegen zu großer Nähe bestimmte Dinge übersieht. Vom Fachwissen her betrachtet hätte eine solche Studie eher von der ersten Garde der frankophonen Akademie erwartet werden können, also von Koryphäen wie Thierry Groensteen, Jan Baetens, Pascal Lefèvre, Thierry Smolderen oder Benoît Peeters. Sicherlich haben diese Größen die Entwicklungen in ihrem heimatlichen Comicmilieu seit den frühen 1990er Jahren bemerkt, doch als unmittelbare Förderer und Kritiker waren sie zugleich Teil des Prozesses, in dem sich das Medium wandelte und zu neuen Kräften fand. Die bekannten Namen des modernisierten frankobelgischen Comics, Marjane Satrapi, Lewis Trondheim und Joann Sfar, wurden schließlich zunächst innerhalb der Szene gekürt, bevor sie ihren Durchbruch beim breiten Publikum hatten. Eine mit Beaty vergleichbare Position teilen nichtfranzösische europäische Autoren wie Andreas Platthaus, Andreas C. Knigge, die Spanierin Ana Merino oder die Briten Paul Gravett und Mike Salisbury, von denen keiner das Risiko wagte, das Beaty eingegangen ist.

 

Mit seiner Studie lässt sich der Kanadier auf ein Thema ein, das den Umfang eines Buches sprengt. Beaty weiß das nur zu gut, weshalb er sich mit sieben Fallstudien begnügt. Außerdem muss berücksichtigt werden, dass er für ein angelsächsisches Publikum schreibt, für das vieles Neuland ist, was hierzulande vertraut wirkt. Die letzten beiden Kapitel mit ihren Schwerpunkten auf Sfar und Trondheim sind zwar vorbildlich zusammengefasst, wiederholen jedoch fast nur Bekanntes. Dieser Makel sei Beaty zugestanden, denn seine Stärke liegt in seinem Gesamtkonzept. Das Werk erscheint in einer Reihe zu Buchkultur und Bibliothekswissenschaften, und dieser breite Ansatz bekommt dem Werk, das sich nicht nur an Comicfans und Studierende wendet. Beaty stellt Comics allgemein in das Spannungsfeld zwischen hoher und niederer Kultur, zwischen Kunst und Literatur, zwischen Anspruch und Kommerz. Beispielsweise erörtert er den unterschiedlichen Status, den Künstlerbücher von Frans Masereel, Max Ernst oder Pablo Picasso, die sich ja formal kaum von ihren verachteten Verwandten unterscheiden, auf eine hellsichtige Weise, die Maßstäbe setzt. Wegen seines Panoramablicks auf das europäische Comicgeschehen verzichtet er auf die Unsitte, die Handlungen gewisser Werke platt aneinanderzureihen.

 

Beaty nutzt die Gelegenheit, seinen Fokus verändern zu können. Dadurch kann er sich dem Comic als künstlerisches Objekt widmen, dessen Wirkung von Elementen wie Format, Papier und Druckqualität, Gewicht und Preis, Vertriebsweg und Gewinnstreben abhängt. Bei seiner Analyse vernachlässigt er dabei keinesfalls die althergebrachte Tradition, sprich: das klassische frankobelgische, gebundene, farbige Comicalbum mit seinen 48 bis 56 Seiten. Lewis Trondheims Debüt mit seinem (Anti-)Helden Lapinot wird durch seinen Umfang von 500 schwarzweißen Seiten zum Manifest für eine Generation l’Association, die zwar rebellierte, sich unter Umständen aber auch auf den Mainstream einlassen konnten. Beaty sieht in dem inzwischen arrivierten Teil der jungen Wilden ein geschicktes Marketingkonzept, das bei Sfar und Trondheim mit extrem hoher Produktivität einhergeht; andererseits erkennt er eine ‚moderne Postmoderne‘. Mit diesem Neologismus bezeichnet er die Programme von Kleinverlagen wie Drozophile, Atrabile und Frémok, die sich an handwerklichen Ansprüchen im Stile des Arts and Crafts Movement des 19. Jahrhunderts orientieren: hochwertige, schöne Werk mit dem entsprechenden Preisniveau, meist mit geringer Auflage. Der Bruch mit den Standards rutscht auf diese Weise zwischen die Comicavantgarde, zwischen l’Association und Frémok.

 

Das neue Angebot durch die frechen Abweichler ist mittlerweile in die Jahre gekommen. In der Zwischenzeit verfolgten die Verlagskonzerne mit ihren Klassikern, die häufig schon Staub fingen und die nachwachsenden Generationen nur in Ausnahmefällen wie Zeps „Titeuf“ noch begeistern konnten, wie sich die Märkte änderten. Beaty merkt an, dass eigentlich ebenfalls der erfolgreiche Import der Mangas hätte gewürdigt werden müssen, worum sich jemand anders kümmern müsste. Mit ihren eigenen Universen, die zur selben Zeit sich sowohl durch Serien in traditionellen Formaten mit hohen Auflagen als auch durch Bände mit kleiner Auflage bei unabhängigen Verlagen ziehen, passen sich Sfar, Trondheim oder auch Denis Deprez von Frémok den Forderungen des Mainstreams an und werden gewissermaßen gezähmt, auf der anderen Seite verändern sie durch ihre in sich gebrochene Bibliografie die Rahmenbedingungen innerhalb des Mainstreams. Den Geschäftsführern und Vorstandsvorsitzenden großer Konzerne wie Média Participations ist es schlicht egal, wie die Comics nun aussehen, solange sie rasch ihr Publikum finden und dadurch eine zügige Amortisation der Kosten mit genügend hohen Profiten garantieren.

 

Was l’Assoziation und Frémok als Maßstab gesetzt haben, wurde von der Konkurrenz anerkannt, die um dieselbe Leserschaft buhlt wie die Pioniere und nun die Formate annektiert, die sich in den vergangenen Jahrzehnten eingebürgert haben. Der globale und der lokale Markt durchdringen einander dabei in bestimmter Hinsicht. Schlüsselfunktionen üben dabei drei Nationen aus, deren Lobpreis notwendig ist, um sich auf dem Weltmarkt durchsetzen zu können: die USA für den angelsächsischen Markt, Japan für Asien und Frankreich für Europa, das Belgien abgelöst hat. Künstler aus kleineren Märkten wie Finnland, Deutschland oder Spanien müssen durch diese Nadelöhre, die binnen kürzester Frist diverse Übersetzungen garantieren kann.

 

Um diese Lektüre kommt niemand herum, der sich ernsthaft mit europäischen Comics auseinandersetzen will. Ich rechne damit, dass in absehbarer Zeit eine französische Version erscheinen wird; ob sich ein deutscher Verlag finden wird, bezweifle ich. Wünschenswert wäre es.

 

Britta Madeleine Woitschig (11/09)

 

Bart Beaty: Unpopular Culture. Transforming the European Comic Book in the 1990s (Coll. Studies in Book and Print Culture, hrsg. von Leslie Howsam), Toronto, Buffalo, London: University of Toronto Press 2008, 306 Seiten, Softcover, ISBN 978-0-8020-9412-4

 

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