Eine etwas andere Bloomsbury Group
Detective Chief Inspector Harker und sein Adlatus Detective Sergeant Critchley sind Spezialisten, die durch das gesamte Vereinigte Königreich Ihrer Majestät Queen Elizabeth II. reisen, um Serienmörder aufzuspüren. Ihr erster Fall führt die beiden Ermittler in die Hauptstadt an der Themse, genauer gesagt: in den vornehmen Stadtteil Bloomsbury. Auf den Treppen zur St George’s Cathedral befindet sich die aufgeschlitzte, verstümmelte Leiche eines nackten Mannes. Fleißig unterstützt von der Pathologin Jenny Griffin finden sich Fasern eines alten Buchs, des Buchs Salomon aus dem Titel. DCI Harker und DS Critchley folgen der Fährte durch verstaubte Antiquariate für okkulte Bücher und geheime Kammern obskurer Satanssekten, bis im Labyrinth zweifelhaft wird, wer hier Jäger ist und wer der Gejagte.
Das Understatement sachlich kühler Briten ist zwar ein Gemeinplatz, allerdings trifft er auf das Duo Roger Gibson und Vince Danks durchaus zu. Beide sind seit Anfang der 1980er in der heimischen Comicszene verwurzelt, und mittlerweile hat jeder der beiden erkannt, wo seine Stärken liegen. Deshalb gelingt dem Duo mit der Premiere ihrer Krimiserie ein schöner Einstand, bei dem sich ein spannender Plot, präzise Studien des Alltags und eine fein abgestimmte Grafik zu Unterhaltung auf höchstem Niveau vereinen. Zu dem von Danks bewunderten Alan Moore befinden sie sich auf Augenhöhe, denn gute Kunst und scheinbare Leichtigkeit schließen sich nicht aus.
Dabei orientiert sich das künstlerische Team weniger an Comics, zumal im angelsächsischen Sprachraum das Superheldengenre tonangebend ist, für das sich weder Gibson noch Danks berufen fühlten. Ihr großes Vorbild sind die besten Krimiserien aus Großbritannien und den USA der letzten fünfzig Jahre: „Für alle Fälle Fitz“, „Monk“, „Columbo“, „Nummer Sechs“ – gleich, wie sie heißen, Danks und Gibson kennen sich aus. Ihre Fälle sind entsprechend mit Zitaten gesättigt. Jeder Fall ist deshalb wie das legendäre Kreuzworträtsel der „Times“ postmoderner Denksport. Im Gegensatz zu den deutschen Regionalkrimis mit ihren klar definierten lokalen Grenzen sind DCI Harker und DS Critchley als Sonderheit für Serienmorde mobil: In seiner kurzen Einleitung plaudert Gibson aus dem Nähkästchen, indem er in knappen Sätzen Neugier für die nächsten vier Bände weckt, die in Whitby, Portmeirion, Blackpool und New York spielen werden.
Der Autorencomic im Genrekleid erscheint seit Januar 2009 als schwarz-weiße Heftserie mit farbigem Cover, wobei jede Ausgabe 20 bis 22 Seiten umfasst. Die Nullnummer mit einer seitenlangen Kurzgeschichte und den ersten Seiten des vorliegenden Sammelbandes konnte im Oktober 2008 auf der Birmingham Comics Show für ein halbes Pfund erworben werden; seit März 2009 befindet sich eine digitale Version online. Mit ihrem Pensum richten sie sich nach „Cerebus“ von Dave Sim und Gerhard. Wie der Kanadier wurden sie anfangs unterschätzt, denn auf ihrem Blog klagen sie über die Uneinsichtigkeit des amerikanischen Vertriebs, der ihr erstes Tradepaperback im Katalog nicht listen wollte, weil zu geringe Umsätze befürchtet wurden. Mit jedem neuen Heft wächst jedoch der Kreis ihrer Fans.
Der einfachste (und einzige) Weg jenseits des „Advanced“-Kataloges, „Harker“ zu bestellen, besteht darin, online bei Ariel Press entweder die Hefte oder Sammelbände (oder beides) zu ordern. Ich zweifle nicht im Geringsten daran, dass sich eine deutsche Ausgabe rechnet, die jedoch weniger über den Comicfachhandel, sondern verstärkt über die Krimiszene vertrieben werden sollte: „Harker“ ist eine Fernsehkrimiserie auf Papier. Der Schauplatz London und das etwas dickere Format legt einen Vergleich mit dem Fumetto nero „Dylan Dog“ nahe, doch beide wenden sich an unterschiedliche Gruppen: „Harker“ ist ein Premiumcomic, der wegen seiner feinen Grauabstufungen einen hochwertigen Druck auf gutem Papier verlangt und sich nicht unter Preis verkaufen sollte. Danks greift auf ein sorgfältiges Register aus fotografischen Dokumenten zurück, wodurch sich die Nähe zu Jiro Taniguchi erklärt. Die Fülle an Details mit den sorgsam gesetzten Schatten wird erweitert durch innovative Experimente wie eine Pub-Sequenz aus Splashpanels. Seit Oktober ist der besprochene Band lieferbar, der zweite Streich folgt im März 2010, wozu sich im Laufe dieses Monats der erste Roman gesellen wird. Mit diesem Profil passt „Harker“ in Verlage wie Cross Cult, Eidalon und Kult / Schwarzer Klecks; ein im Krimisegment etabliertes Schwergewicht wie Heyne könnte sich mit jährlich zwei Comicbänden und mindestens einem Roman bestimmt leichter durchsetzen, wenn denn genügend Mut vorhanden ist und Gibson & Danks einverstanden sind. Erst auf eine Verfilmung durch einen britischen Kanal zu warten, die früher oder später kommen wird, hielte ich für eine fahrlässig versäumte Chance.
In ihren Ermittlern haben die Autoren, gedeckt durch künstlerische Freiheit, ihre Alter Egos erschaffen: Der ranghöhere Titelheld als Fiftysomething entspricht einem um zehn Jahre gealterten Vince Danks, während sich Roger Gibson im Watson DS Critchley entsprechend verjüngt dargestellt findet. Mit ein wenig Glück liegt hier der Beginn eines modernen europäischen Klassikers vor.
Britta Madeleine Woitschig (11/09)
Roger Gibson (Serienidee und Szenario) / Vince Danks (Serienidee und Zeichnungen): Harker Book One: The Book of Solomon, York: Ariel Press 2009, 128 Seiten, Softcover
harkerandcritchley.blogspot.com