16. November 2009

Kinderleiden


Unter einer Trennung leiden hauptsächlich die Kinder, das ist eine altbekannte Tatsache. Doch wie es sich wirklich anfühlt, wenn der Vater plötzlich weg ist und die Mutter kaum mit ihrer Trauer umgehen kann und dabei fast sich selbst und vor allem ihre Familie vergisst, das erzählt Benjamin Tienti in seinem Debütroman sehr eindringlich und überzeugend aus der Perspektive eines siebenjährigen Jungen. Dessen Mutter ist Krankenschwester und arbeitet quasi ununterbrochen, zumindest scheint sie so gut wie nie ihren Schwesternkittel auszuziehen. Der Vater dagegen ist unzuverlässig und drogensüchtig, dafür aber häufig zu Hause. Wenn er gut drauf ist, agiert er liebevoll und gibt den Familienclown. Aber schnell schlägt sein Verhalten auch ins Gegenteil um. Einzig der kleine Bruder, der vierjährige Tobi, ist ein verlässlicher Lichtblick in dieser Welt. Die beiden Brüder halten zusammen, dennoch kann der ältere den jüngeren nicht vor den Realitäten innerhalb der Familie schützen. Wie auch, schließlich versteht er selbst kaum, um was es geht. Er hält den Schmerz über den Verlust des Vaters tief in sich fest und versucht, nach außen eine Fassade aufrechtzuerhalten. Dass das nicht auf Dauer funktionieren kann, ist klar. Da hilft auch kein autogenes Training. Erst kommt es zum Streit mit seinem besten Freund Akin, dann zum lange notwendigen Gefühlsausbruch auf seiner eigenen Geburtstagsfeier. Durch die Erzählperspektive geht der Roman einem sehr nah.
Benjamin Tienti arbeitete als Erzieher und ist inzwischen neben seinem Leben als Schriftsteller an einer Schule in Berlin Neukölln tätig. Man merkt seinem Roman an, dass er versteht, wovon er schreibt. Sein Stil ist knapp und prägnant, in kurzen Episoden erzählt er aus dem Leben eines Jungen, der versucht, die Welt um sich herum zu verstehen. Diese kindliche Sichtweise trifft Tienti sehr gut, seine Prosa ist gleichzeitig kraft- und gefühlvoll. Ein Debütroman, der im Gedächtnis bleibt!

Katrin Zabel

Benjamin Tienti: Raubvogel, Roman, 105 Seiten, Luftschacht Verlag 2009