10. November 2009

Anklopfen und nicht reinkommen

 

Wenn in der Minimal Music die „Dinge“ nicht richtig weitergehen, so liegt das nicht in der Fantasielosigkeit des Komponisten, sondern das ist schon das Programm. Der kleine Unterschied im vermeintlich Gleichen. Man könnte auch sagen, hier wird ein Trauma dadurch enttraumatisiert, dass es ästhetisch aufbereitet wird. Die Dinge kommen an ihren Ausgangspunkt zurück und werden in eine etwas andere Richtung gelenkt oder genauer unter die Lupe genommen. Manchmal ist das Material, mit dem man arbeiten muss, das einem zur Verfügung steht, einfach nicht so opulent. Vielleicht hat das auch mit Kontrolle und Sicherheitsbedürfnis zu tun, eine Form so zu besetzen, dass nichts dem Zufall überlassen werden soll. Gerade die Akuratesse im Minimalistischen ist ja beeindruckend. Und nach kurzer Zeit kann man loslassen. So als ob nichts mehr passieren könnte. Und man genießt.

 

Ricoh Gerbls Erzählungen nehmen Teil an solchen „Verdickungen“, Verknotungen, wo etwas nicht weitergeht, weil noch nicht alles gesagt war, weil noch nicht alles auf dem Tisch liegt. Das heißt, Ricoh Gerbl schreibt keine traditionellen Erzählungen. Dazu ist ihr das Mittel viel zu wichtig und zu problematisch, dessen sie sich bedienen muss, damit wir als Leser etwas von ihrer Obsession verstehen: Sprache. Immer wieder wird der Leser mit Reihenbildungen konfrontiert, mit der Möglichkeit, Fächerbewegungen des Blicks entsprechend sprachdimensional umzusetzen. Man hat also durchaus Last mit den Dingen. Die stehen nicht einfach zur Verfügung, sondern müssen mühsam aufgefädelt werden, sonst gibt es sie nämlich gar nicht. Dabei ist das Interesse der Autorin kein dokumentarisches. Letztlich zielt das Verfahren ab auf einen Bereich, der sich genau einem solchen Zugriff entschieden entzieht, ein Bereich, der zurückblicken kann und in der dann entstehenden Distanz die ganze Fragwürdigkeit des Beherrschenwollens durch Benennung und Beschreibung fast fürchterlich im Raume steht. Ein Anrennen an, ohne anzukommen.

 

Das ist das vielleicht entscheidende Thema dieser Erzählungen. Eine sehr überschaubare Anzahl von Leuten, die mehr oder weniger miteinander zu tun haben, verwandt sind, befreundet, ex-befreundet. Dilemmata der Zweisamkeit, so könnte man die zahlreichen Begegnungen der Figuren bezeichnen, die immer wieder in die notwendige (?) Kalamität der Einsamkeit auslaufen. Man wird nicht mit den pubertären Überspanntheiten konfrontiert, wenn jemand sich entzieht, aber zuletzt geht es hier auch und vor allem um die Anfänge von aufbrechenden Wünschen, wenn da jemand ist, der diesen Aufbruch losbricht. Es gibt hier also keine Lovestorys zu lesen. Und das (durchaus auch komisch vermittelte) Unglück der Figuren treibt einem keine Tränen in die Augen. Die Geschichten haben etwas von einem Exerzitium. Und das teilt sich sowohl den Figuren als auch dem Leser mit. Der Leser hat ja erst einmal nur die Sprache, über die er etwas erfährt. Ricoh Gerbl behält die Sprache immer mit im Blick, sodass auch der Leser sie nicht aus den Augen verliert, mal ist sie lakonisch, dann wieder extrem nüchtern, hier poetisch und lyrisch; Innen- und Außenperspektive gehen nahtlos ineinander über, dann haut uns der „style indirect libre“ aus der scheinbaren Nabelschau heraus.

 

Und dann eben immer wieder die fotografisch anmutenden Zoom-Effekte, die entwicklungslogisch die Dinge nicht gerade simplifizieren. Etwas ist verhakt, ist eingehakt, und eigentlich wollte man schon längst woanders sein. Deshalb finden diese Erzählungen „sur place“ statt. Es sind Vivisektionen der Ratlosigkeit, des vergeblichen Bemühens, des Immer-noch-die-gleichen-Probleme-wie-immer-schon-Habens, nur dass man eben nicht jünger wird und die Frage sich dringend stellt, wie man unter solchen Umständen überhaupt cool sein kann. Und zwar cool zu sich selbst, nicht im Wahrnehmungsverständnis der anderen. Indem Ricoh Gerbl solche Momente und stationären Aufenthalte schafft, macht sie paradoxerweise den Raum frei für so etwas wie Empörung. Aber eine Empörung, die sich fatalerweise gegen niemanden speziell richtet. Das ist ganz groß. Man wird Zeuge von stillgestellten Amokläufen. Für die entscheidenden Fragen und Zustellungswünsche gibt es keine Ansprechpartner. Je genauer wir zum Hinsehen gezwungen werden, umso mehr müssen wir feststellen, dass wir nichts sehen.

 

Dieses Verbautsein führt uns Ricoh Gerbl jedoch so kunstvoll vor, dass wir an diesem Dilemma schon wieder Spaß haben. Kann man mehr aus einer grundsätzlich desolaten Situation herausholen?

 

Dieter Wenk (11-09)

 

Ricoh Gerbl, Leben im Luxus. Erzählungen, Halle (Saale) 2009 (Mitteldeutscher Verlag)

 

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