30. Oktober 2009

Zur Erinnerung

 

Dem männlichen Zeitgenossen wird es mit der Femme fatale ähnlich ergehen wie mit Moby-Dick. Beide kennt er nur vom Hörensagen; sollte es aber mal wirklich zu einer Begegnung kommen, dürfte sie leicht tödlich enden. Aber auch das ist natürlich bereits Literatur. Die Femme fatale, das klingt auch in Joachim Nagels Coffee-Table-Book an, hat ihre besten Tage hinter sich. Wenn man bedenkt, dass dieser Frauentypus vor ziemlich genau hundert Jahren zur vollen Entfaltung kam – ganz avantgardistisch sowohl im Leben als auch und vor allem in Kunst und Literatur – dann weiß man auch, warum das so ist.

 

Um 1900 war es noch möglich, auf Publikationen wie die des Nervenarztes Möbius „Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes“ zu stoßen. Otto Weininger infizierte eine ganze Künstler- und Intellektuellengeneration mit dem Virus einer fundamentalen Geschlechteropposition. Der Typus der männermordenden Frau geht zwar auf alte Zeiten zurück und weist mit Salome, Judith und Lilith die vielleicht prächtigsten Exemplare auf. Aber erst in der Zeit der vorletzten Jahrhundertwende traten diese Exemplare gewissermaßen rudelweise auf. Keine schöne Zeit für den Mann. Oder doch? Immerhin nicht unintensiv, könnte man sagen.

 

Die Erfahrung der vollen Pendelbewegung zwischen erbarmungsloser Abhängigkeit von der (sexuellen) Frau, also auch ihrem Begehren, und ihrer Verdammung als nicht zu bändigendem Raubtier. Oscar Wilde, Frank Wedekind, August Strindberg und viele andere Männer hatten in der Zeit von etwa 1880 bis 1910 viel zu tun. Insofern fällt der Schwerpunkt der vorliegenden Publikation auch genau in diese Zeit. Gleichwohl wird der Leser und Betrachter der zahlreichen Abbildungen des (hier meist gar nicht so) schönen Geschlechts auch mit den Vorgängerinnen der klassischen Zeit bekannt gemacht, die ja schon den Typus vorgaben.

 

Am Beispiel der Salome kann dabei gezeigt werden, dass die verruchte Tänzerin, die den Kopf Johannes des Täufers auf ein gegebenes Versprechen hin einfordern durfte, gar nicht so amoralisch war wie man das nach einer Lektüre von Wildes „Salome“ glauben könnte. Die böse Mutter Herodias hatte damals den Ausschlag gegeben und ein naives Mädchen ihren eigenen Wünschen entsprechend manipuliert. Auch die Figur der Judith ist zunächst einmal mehr mit Jeanne d’Arc verbunden als mit dem der Femme fatale. Denn Judith ging es einzig und allein um die Rettung ihres eigenen Stammes, dass sie Holofernes den Kopf abschlug. Weibliche Vampire und Blutaussagerinnen befielen die Männer erst eine ganze Riege von Menschengeschlechtern später. Alles also nur ein Mythos? Eine Erfindung? Um das Spiel zwischen den Geschlechtern ein bisschen spannender zu machen?

 

Vielleicht ist der Zeitpunkt einer solchen Publikation gar nicht so schlecht gewählt, denn in einer Zeit der überall geforderten Transparenz und eingeklagten Gleichberechtigung ist es zumindest unterhaltend, mal ein paar Modelle vorgeführt zu bekommen, bei denen eine andere Logik vorherrscht. In der Wirklichkeit wären wohl beide Parteien hoffnungslos überfordert, noch einmal eine Spannung zu kreieren, die zu einigen der wunderbarsten Werke überhaupt geführt haben. Heute ist Diskursliebe. Das ist unser Fatum. Unisexfatal.

 

Dieter Wenk (10-09)

 

Joachim Nagel, Femme fatale Faszinierende Frauen, Stuttgart 2009 (Belser)

 

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