Pflicht mit Bravour
Anfang September 2009 wurde die dritte, völlig neu bearbeitete, 18 Bände umfassende Neuausgabe von Kindlers Literatur Lexikon (kurz KLL), eines der Standardwerke für diejenigen, die sich professionell mit Literatur befassen, in den Handel gebracht. Hauptverantwortlicher dieser jahrelangen Kärrnerarbeit war Heinz Ludwig Arnold, der das Mammutwerk herausgab und der achtköpfigen Redaktion vorstand. Damit sich die Übersicht bei den 1500 Autoren nicht verflüchtigte, bildeten 75 Fachberaterinnen und Fachberater für jene Bereiche, in denen diese sich durch Expertisen bewiesen hatten, eine mittlere Leitungsebene. Für das neue Thema Comic wurde Andreas C. Knigge hinzugezogen, der in grauer Vorzeit als Schüler das Fachmagazine Comixene mitgegründet, als Programmverantwortlicher sowohl im Kleinverlag Becker & Knigge als auch im renommierten Kinderbuchverlag Carlsen Verlag Erfahrung und Meriten gesammelt sowie regelmäßig Artikel und Bücher für das breite Publikum geschrieben hatte. Im Oktober 1982 erschien Comixene 50 als letzte reguläre Ausgabe, zwischen Juni 1994 und März 1996 erschienen sieben weitere Ausgaben. Im Februar 2003 feierte das todgeglaubte Magazin fröhliche Wiederauferstehung, zwar bei einem neuen Verlag mit einer neuen Redaktion um Martin Jurgeit, dennoch wurde bruchlos an die Nummerierung angeknüpft. Bei JNK erscheint die Comixene bis heute. Privat zieht es Knigge nach Hellas, weshalb er auch die griechische Fachpresse kennt wie das von Jannis Manolis Violakis herausgegebene Comicmagazin Babel.
Der vorliegende Band stammt aus der ehrwürdigen Reihe text + kritik, eine 1963 von Arnold gegründete Zeitschrift für Literatur. In den vergangenen viereinhalb Jahrzehnten hat sich der akademische Begriff, was als literarischer Text denn verstanden werden darf, mehrfach gewandelt und sichtlich erweitert. Neben den klassischen Disziplinen Epos, Drama und Lyrik finden sich in den bisherigen Bänden Aufsätze beispielsweise zur Literaturkritik, zum Kino und dem Spannungsfeld zwischen Literatur und Geheimdiensten. Der Sonderband zu Comics, Mangas, Graphic Novels von Arnold und Knigge ist der erste seiner Art, wobei sich mir der Eindruck aufdrängt, Arnold wolle seinem Experten nach dem aufreibenden Alltagsgeschäft für das KLL ein entspannendes Freispiel gönnen. Dagegen ist nichts einzuwenden, solange die Qualität gewahrt wird. Auch wenn einige Beiträge Schwächen aufweisen, haben die Herausgeber ihre Aufgabe mit Bravour gemeistert. Die unweigerliche Schnittmenge mit den teuren Regalmetern ist dabei Stärke und Schwäche zugleich.
In einer Reihe mit dem Schwerpunkt Belletristik im weitesten Sinne fällt der Status des Unikats ins Auge. Folgerichtig wendet sich das möglicherweise verstörende Werk an ein Publikum, das auf eine mehr oder minder fremde Materie trifft. Gut, den einen oder anderen Comic werden die Lesenden schon kennen, doch nur die wenigsten werden sich intensiver damit beschäftigt haben. Durch seine bewährten Mitstreiter, darunter Anna Gentz als einzige Autorin, gelingt ein Einstieg auf hohem Niveau – aber leider nur ein Einstieg.
Wer sich in den letzten zwanzig Jahren kontinuierlich mit der internationalen Sekundärliteratur zu Comics beschäftigt hat (wie meine Wenigkeit), erkennt vertraute Namen auf beiden Seiten: Mit Paul Derouet, Dietrich Grünewald, Urs Hangartner, Herbert Heinzelmann, Jens R. Nielsen, Andreas Platthaus und Klaus Schikowski finden sich erprobte Veteranen unter den Verfassern, während Jacques Tardi, Carl Barks, Robert Crumb, Hugo Pratt, Pierre Christin und besonders Alan Moore fast schon die üblichen Verdächtigen unter den Comicautoren sind. Jede dieser allzu vertrauten Marken kommt bei einer simplen Internetrecherche auf mindestens eine Million Einträge, und durch das KLL sind sie im deutschsprachigen Raum de facto kanonisiert. Für mich zählt deshalb Anna Gentz‘ Essay über die Comics von Julio Cortázar, der als Autor phantastischer Literatur bekannt ist, als riskierende Forschung ebenso zu den Höhepunkten wie Knigges Werkstattgespräch mit dem Reprodukt-Verleger Dirk Rehm und Grünewalds Analyse der narratologischen Fähigkeiten des argentinischen Altmeisters Alberto Breccia. Studien von diesem Format, die auch den schon Eingeweihten neue Perspektiven eröffnen, hätte ich mir in größerem Umfang gewünscht.
Vor zehn Jahren wäre diese Anthologie wahrscheinlich wie eine Offenbarung empfangen worden, doch inzwischen hat sich vieles getan – zu viel. Gewiss lege ich einen hohen Maßstab an, da ich Teil jener übersichtlichen Gruppe von Comicverrückten bin, die durch ihr Fachsimpeln Verwunderung auslösen können. Ich hatte gehofft, die Riege der Autoren wäre wie ich neugierig und ständig auf der Suche nach Entdeckungen.
Für den Rest des Publikums, der nicht ahnen kann, worüber ich mich beklage: Obwohl auf dem Titel explizit Mangas erwähnt werden, findet sich lediglich ein Beitrag von Jens R. Nielsen, gut zwanzig Seiten, weniger als zehn Prozent. Für den Bereich japanischer Comics, die inzwischen den Handel in einer nicht zu unterschätzenden Weise aufrechterhalten, empfinde ich dieses Segment als beklagenswert unterrepräsentiert. Warum? An mangelnden Themen kann es nicht liegen, denn da fallen mir auf Anhieb Rumiko Takahashi und Mamoru Oshii, Jiro Taniguchi und Kiriko Nananan ein, deren Bestseller oder anspruchsvolle Werke mittlerweile auch hier erhältlich sind.
Außerdem vermisse ich Beiträge, die sich Werken aus weiblicher Hand widmen. Autorinnen und Zeichnerinnen haben sich in den letzten Jahren international vermehrt bei Kritik und Publikum durchsetzen können, wegen ihrer Qualitäten, nicht wegen ihres Geschlechtes. Diese Leistung hat es nicht verdient, durch Stillschweigen übergangen zu werden. Vier Seiten über Annie Goetzinger sowie flüchtige Erwähnungen von Marjane Satrapis Persepolis und Isabel Kreitz’Œuvre können diesen Makel nicht kaschieren, vielmehr betonen sie ihn. Abgesehen von den just Genannten findet sich ein breites Angebot, beginnend bei Alison Bechdels Fun Home, über Linda Medleys Castle Waiting, Posy Simmonds Gemma Bovery und Tamara Drewe, Claire Bretéchers Aggrippine und Chantal Montelliers Odile et les crocodiles, bis zur Hure H von Anke Feuchtenberger und Katrin De Vries.
In dem gerade publizierten COMIC! Jahrbuch 2010 bemerkt Sascha Hommer, dass es in Deutschland keine ernstzunehmende Comicforschung gibt. Den Beleg findet er in einer Lücke, nämlich der nicht existierenden Theorie. Zugegeben, Versuche wie jüngst den von Jakob F. Dittmar oder einige Jahre zuvor von Stephan Packard gibt es. Doch bis die ihre Wirkung entfalten können, wird es dauern. Momentan muss ich deshalb Hommer rechtgeben. Was sich findet, ist weniger eine Disziplin im akademischen Sinne, wozu das Feld auch zu dürftig besetzt ist. Das Reden und Schreiben über Comics wird von Enthusiasten bestimmt, die sich ziemlich früh ihre Claims abstecken und diese dann wälzen, bis auch das letzte Katzengold zutage getreten ist. Zwischen den berufenen Einzelgängern erstrecken sich auf diese Weise Meilen von Brachland. Im neunzehnten Jahrhundert mochte das noch dem Stand der Wissenschaft genügt haben, aber im Zeitalter von Wikipedia und einer geforderten Mehrsprachigkeit ist dieses Modell antiquiert. Die Zeit wäre reif für eine systematische Erschließung und Erforschung von Comics aus sämtlichen Weltgegenden, ausschließlich nach dem Kriterium der Qualität.
Hätte ich einen Wunsch frei, ich bäte das Team Arnold und Knigge, der Pflicht eine Kür folgen zu lassen. Die Kompetenzen dazu sind vorhanden. Es braucht nur einen unbeugsamen Willen, dann gelingt auch die mit Bravour.
Britta Madeleine Woitschig (10/09)
Heinz Ludwig Arnold und Andreas C. Knigge (Hrsg.): text + kritik. Zeitschrift für Literatur. Sonderband V/09 – Comics, Mangas, Graphic Novels, München: edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag, 272 Seiten, ISBN 978-3-88377-995-9