13. Oktober 2009

Selbst-Empfehlungsschreiben

 

„In Wirklichkeit, darüber werde ich mir heute klar, habe ich niemals gearbeitet. Schreiben, lesen und wieder schreiben und lesen was man mag, sich mit Denken beschäftigen, mit Poesie, Literatur, mit soziopolitischen Peripetien, ist nicht „arbeiten“. Der Autor und Publizist Philippe Sollers hat definitiv nichts mit einer Spielart des Schriftstellers im 20. Jahrhundert zu tun, die sich vor allem über das Leiden an sich selbst und/oder an der Gesellschaft definiert. Das „Schicksal“ hat es gut gemeint mit Philippe Joyaux, der sich seit der Veröffentlichung seines ersten Romans („Une curieuse solitude“) Philippe Sollers nannte, so viel Latein muss sein. Rückblickend fällt natürlich ins Auge, dass Sollers mit dem „ne pas travailler“ eine situationistische Parole des Chef-Situationisten und Sollers-Vorbildes Guy Debord umgesetzt hat. In der Absicht, nicht für die „Gesellschaft des Spektakels“ zur Verfügung zu stehen, in der man sich jedoch zwangsläufig aufhält.

 

Philippe Sollers gehört zu den umtriebigsten Intellektuellen Frankreichs seit den sechziger Jahren. Romane (gut 20), Magazine (Tel Quel, L’infini), Lektorat (Gallimard), Katalogtexte, Fernsehauftritte, Petitionen. Das ist das Spiel, das Ph. S. (man beachte das „h“) seit Langem spielt, über das er sich jedoch nicht definieren lassen will, denn die „IRM“ sind das eine (Multiple aneinandergerückte Identitäten), das andere ist der sich von der Gesellschaft völlig zurückziehende Sollers, sei es auf der Île de Ré, wo er ein fantastisches Haus mit Blick aufs Meer besitzt, sei es in Venedig, wo er sich regelmäßig im Frühjahr und Herbst aufhält. Aber natürlich kennt der Sollers-Leser auch diesen „Eremiten“ ganz gut aus den Romanen, denn nichts anderes wird in ihnen durchgespielt, der Wechsel zwischen Initiative und Rückzug. Meist ist ein seltsamer Agent im Spiel, von dem man nicht so recht weiß, was er tut und für wen.

 

Der Titel dieser Memoiren, die Sollers im Alter von 71 Jahren veröffentlich hat, ist eine Anspielung auf die ständigen Beschwerden, dass dieser Autor eigentlich keine Romane zu schreiben versteht. Daran ist etwas dran. Sollers sieht das selbst natürlich etwas anders. Memoiren sind dazu da, Dinge klar zu stellen. Rechnungen zu begleichen. Das wird hier ausgiebig betrieben. Aber noch ausgiebiger, und darin bleib sich Sollers treu, geht es hier um eine große Werbeaktion in eigener Sache. Wenn man’s recht bedenkt, ist Ph. S. der Größte. Er hat nicht nur ein Leben gelebt, wovon viele nicht einmal zu träumen wagen (Bekanntheit, Freizeit, „keine Arbeit“, Frauen im Überfluss, eine Gattin, die das duldet, Mondänität), er ist ein Autor, der die Gesellschaft durchschaut, klare Urteile fällt, sich als „Geheimtipp“ empfiehlt und doch aufs Große Ganze geht. Aber: Etwas fehlt noch in diesem Leben, das sich Sollers in jeder Minute und Sekunde so noch einmal wünscht (wer könnte es ihm verdenken, dass man so auch Nietzsches „Ewige Wiederkehr“ verstehen kann), es ist die letzte Anerkennung, die einem (selten) lebenden, meist schon toten Autor wiederfahren kann: Es ist die Aufnahme in die Klassikeredition „Pléiade“.

 

Man darf durchaus die Vermutung aussprechen, dass dieser Roman (Memoiren) in der Absicht geschrieben wurde, eben nicht „der Gesellschaft zu schaden“ (das trennt Sollers dann doch von Debord), sondern sich mit diesem Selbst-Empfehlungsschreiben für die Luxus-Klassikeredition zu bewerben. Wie ein roter Faden ziehen sich die „Dedikationen“ durch dieses Buch, und man bekommt sie alle zu lesen (von Leuten wie Ponge, Lacan, Mauriac, Houellebecq, Le Clézio). Außerdem lässt Sollers alle seine Romananfänge paradieren (wobei es zu seltsamen Auslassungen kommt wie etwa bei „Femmes“, einem Roman, von dem der Autor behauptet, er sei „perfekt“). Eigenartigerweise sollen sich die Romane, sollten die Leser fehlen, sogar selbst lesen. Das ist in der Tat ein wichtiger Punkt, denn der Narzissmus des Autos ist grenzenlos. Das fällt ihm auch manchmal selbst auf, aber ein Problem hat er damit nicht. Als Leser fällt es schwer, diesem Selbst-Gönnertum Geduld und Nachsichtigkeit entgegenzubringen. Wobei die ersten fünfzig Seiten dieses 450 Seiten starken Texts sich durchaus angenehm abheben gegenüber dem, was man sonst an Autor-Selbstbespiegelung kennt.

 

Aber schnell, zu schnell findet Sollers zu seinem bewährten (?) Nabelschauprinzip zurück, und der Leser wird mehr und mehr zum distanzierten Beobachter dieses seltsamen Schauspiels, das mit der Selbsterhöhung eine Fremderniedrigung erzwingt. Das Hauptproblem des Autors ist der Umgang mit einer Ironie, die sich nicht als solche zu erkennen gibt. Aber dazu sind ja Memoiren schließlich auch noch da, im Rückblick auch das noch irgendwie als part of the project zu präsentieren, worauf man erst mal aufmerksam gemacht werden muss, um dann doch das Urteil zu fällen, dass es mit der Ironie nicht sehr weit her ist. Dazu arbeitet Sollers mit zu groben Einteilungen (Ich und die Welt; die Kunst und die schnöde Wirklichkeit; die Kunst als Wahrheit, die Wirklichkeit als konstanter Alptraum), und die Aufsteilung an Größen wie Stendhal oder Debord ist zu offensichtlich, als dass sie sich ganz zwanglos anempfehlen könnte.

 

Philippe Sollers, und das ist ganz ohne Häme gesagt, mit Blick auf die Substanz seiner Bücher, wird wohl kaum die Pléiadisierung erleben. Vielleicht, post mortem, als Zitaten-Thesaurus.

 

Dieter Wenk (09-09)

 

Philippe Sollers, Un vrai roman Mémories, Paris 2007 (Gallimard)