Große Sprünge zurück
An China kommt man nicht mehr vorbei, so viel steht fest. Zahllose Publikationen zum „Land der Mitte“ liegen vor, das in diesem Jahr Gast der Frankfurter Buchmesse ist. Im Februar 2008 erschien beispielsweise Ingo Niermanns Protokollband „China ruft dich“, in dem „Auswanderer und Heimkehrer“ ihre Erfahrungen mit dem Land mitteilten. Mit dabei waren Größen wie Ole Scheeren und Ai Weiwei. Möglicherweise ließ sich die Chinakennerin Susanne Messmer von diesem Buch und der Technik der „oral history“ inspirieren, denn auch hier geben zwölf Personen über ihr Leben in China Auskunft. Im Unterschied zu Niermanns Projekt sind die Interviewten aber alle Chinesen, mal mehr, mal weniger, die meisten gar nicht bekannt. Und: die Personen sind allesamt alte Leute, ja Greise, der Jüngste ist Jahrgang 1935.
All diese Leute haben in ihrer Kindheit, Jugend oder in ihrem frühen Erwachsenenleben die Japaner als Feinde erlebt, die Teile Chinas besetzt und die Chinesen schikaniert hatten. Alle wissen von der Staatsgründung 1949 zu erzählen, aber auch von der „Anti-Rechtsbewegung“, mit der das Ruder perfide herumgerissen wurde nach einer kurzen Zeit des erlaubten „Brainstorming“. Dann die Katastrophe des „Großen Sprungs nach vorne“, der 40-50 Millionen Chinesen das Leben gekostet hat. Frau Chen, Jahrgang 1929: „Der ,Große Sprung nach vorn’ ist dann auf dem Mist der extremen Linken in der Partei gewachsen. Die glaubten, sie könnten machen, was sie wollten. Sie dachten, der Geist wäre das Allerwichtigste, und der Geist könnte jede Schwierigkeit überwinden. Jetzt ist es ja gerade wieder andersherum.“
Es sind solche lapidaren Bemerkungen, die andeuten, was für einen grandiosen und schwierigen Weg China in den vergangenen 60 Jahren zurückgelegt hat. Imposant, aber auch abstoßend der gewissermaßen konzeptuelle Ansatz der Mächtigen bei der Frage der Lancierung des Gesellschaftsniveaus in Richtung Industrialisierung und Kommunisierung. Durch die Bank lehnen alle Befragten die Kulturrevolution als großen Fehler des Ersten Vorsitzenden Mao ab. Nur haben die einen schwer darunter gelitten (die sogenannten „Kapitalisten“), während andere ungeschoren davonkamen, weil sie die richtige Klassenkennung aufwiesen. Viele „Reaktionäre“ wurden immer wieder öffentlich gedemütigt und geschlagen, viele verloren „nur“ Bücher und Schallplatten aus dem feindlichen Ausland. Die „Öffnung“ des Landes nach Maos Tod begrüßen alle Befragten.
Das meiste, was man in diesem Buch erfährt, bezieht sich gleichwohl auf ganz Alltägliches, auf Gebräuche und ihren Wandel, zum Beispiel die Frage der Heirat, besser Verheiratung junger Chinesen im Alter von erst 14 oder 15 Jahren. Liebesheiraten gerade in den unteren Schichten gab es lange Zeit nicht. Man arrangierte und fragte nicht lang. In diesem Zusammenhang fällt einmal der Ausdruck der „Witwe eines lebenden Ehemanns“, oder man liest diesen bestürzenden Satz: „Ehrlich gesagt ist es gar kein großer Unterschied für mich, ob er tot ist oder lebendig.“ Es werden tragische Geschichten von Denunziation in der eigenen Familie erzählt, aber bei keinem einzigen der Porträtierten ist von Verbitterung die Rede. Die von Susanne Messmer angeregten Geschichten erlauben einen Blick in ein Land, das sich schon wieder völlig gewandelt hat und mit dem, was hier erzählt wird, kaum noch etwas zu tun zu haben scheint.
Dieter Wenk (10-09)
Susanne Messmer, Chinageschichten, Berlin 2009 (Verbrecher)