12. Oktober 2009

Zen und die Kunst, Diskurse zu warten

 

Ausgerechnet Aphorismen: tagebuchartig, kleine Studien, philosophische Untersuchungen, opake Gedankensplitter. Das Schöne an Aphorismen ist, dass sie Raum und Zeit der Philosophie überwinden, komplexe Ideen komprimieren und eine eigene heuristische Dimension entfalten. Das Blöde an Aphorismen ist, dass sie zur Trivialität tendieren. Irgendwie steckt in jedem Wortspiel, Sinnspruch, Sprichwort, jedem floskelhaften Satz, jeder alltäglichen Beobachtung, wenn man sie ihrem praktischen Zusammenhang entreißt und sie mit der nötigen Fremdheit anstarrt, eine Menge Hintersinn und Wahrheit. Aber Sinn macht das nur, wenn die Praxis es erfordert; sonst bleibt es bei Wort-Spiel-Sachen.

Als Bestandteile von Theorien sind Aphorismen elliptisch. Sie lassen die Fundamente hinter sich zurück oder schieben ihre Konsequenzen vor sich her. Sie kommen daher wie Anfang und Ende von Theorien, wie erste und letzte Sätze.

Wer die Kritiken, Rezensionen, Aufsätze und Bücher Martin Seels kennt, kann sich einen Interpretationsrahmen für seine Aphorismen erschließen, die in seinen Schriften ohnehin immer wieder erhellend und resümierend aufblitzen. Jetzt hat Seel im S. Fischer Verlag einen ganzen Band Aphorismen unter dem Titel »Theorien« veröffentlicht. Der Plural weist auf die mittlerweile oft wiederholte Einsicht hin, die eine, alles umfassende Theorie, das philosophische System, sei ein für allemal passé. »Das Wort ›Theorie‹ stand einmal für das Vermögen, in einem alles und alles in einem zu sehen. Wer jedoch das Eine nicht zu schauen vermag (und manches spricht dafür, dass niemand es kann), darf sich an vieles halten. So geschieht es hier: Dieses und jenes wird in den Blick genommen, mitsamt dem Blick, der es so oder anders nimmt. Es – die Welt, das Wissen von ihr und die Erwartung an sie – so oder anders nehmen: etwas anderes haben wir gar nicht zu tun.«

Im Vergleich zu philosophischen Großversuchen (die sich von ihrer prinzipiellen Unmöglichkeit offenbar nicht schrecken lassen, wie vor Kurzem Robert Brandoms »Making it explicit«) betreiben die 517 Kurztexte von Seel theoriearchitektonisches Downshifting. Und während in den Feuilletons zurzeit lebhaft darüber debattiert wird, wo die Grenze zwischen Philosophie und Literatur verläuft (eine Debatte, die keine sein will, von Männern – Honneth, Sloterdijk, Gumbrecht –, die sich in einem wesentlichen Punkt einig sind: Schnauzbart), macht auch Seel einen Ausfallschritt aus dem Gehäuse des akademischen Philosophierens, in dem ein Wort das andere, ein Diskurs den nächsten gibt, und in dem man nicht reden kann, ohne die Reden der anderen zurück bis Plato studiert zu haben.

Diskurse sind auf Definitionen verpflichtet. Wer eine Theorie entwickelt, fasst sie in eine sprachliche Form, die ihr Konsistenz verleiht, sie aber zugleich mit Blindheit gegenüber vielem schlägt, was in anderer Form dagegen vorgebracht werden kann. Insofern kann man Theorien ansehen wie unter einem Lichtkegel erhellte Zonen (Apocalypse now!). Vielleicht spielt Heideggers weit gefasster Wahrheitsbegriff der Unverborgenheit (Aletheia) den Walkürenritt dazu.

Auch Seel hatte übrigens Sloterdijk schon einmal mit dem schönen Satz bedacht, wer sich als Philosoph »auf die Literatur herausredet, redet sich aus der Philosophie heraus«. Und das mag erklären, warum Sloterdijk neulich, von Honneth in der ZEIT angegriffen, in der FAZ auch ein paar Sätze über Literatur und Philosophie fallen ließ, denn dazu hatte Honneth gar nichts gesagt. Honneth und Seel lehren mittlerweile beide in Frankfurt.

Wann immer man jedenfalls bei der Lektüre der »Theorien« den Eindruck haben kann, Seel sei hier über das Maß seines immer so profanisierenden wie insistierenden Tons hinaus stumpf oder lieblos verfahren, mag man sich daran erinnern, mit welchem selbst geschnürten Gepäck er unterwegs ist, auch wenn das die halbherzigeren der Stücke nicht schöner macht. Nicht philosophisch, eher literarisch lässt Seel manche Erwartung abblitzen, wie ein Virtuose, der müde durch die Register klimpert.

Philosophisch gesehen, enthalten die »Theorien« nichtsdestotrotz die Spur jener einen Theorie, von deren mühsamer Exposition die gewählte Darstellungsweise erst mal befreit haben mag. Manche von Seels Motiven widersetzen sich einer Systematisierung und finden im Aphorismus ihre formale Entsprechung: Offenheit, Unbestimmtheit in aller Bestimmung, Unabgeschlossenheit. Es gibt keine sichere Seite. Der Versuchung nachzugeben, mit einer ein für alle Mal feststehenden Meinung, Einstellung, Wahrnehmung, Ethik, Präferenz, Theorie seiner Welt zu begegnen, kann bestenfalls ein »nice try« oder aber auch ein »cheap trick« im Getriebe immer auch kontingenter Weltläufte sein.

Vielleicht lassen sich tagebuchartig Beiträge zum Denken leisten, die ihrer Zeit ein bisschen voraus sind, weil sie nicht den Umweg über eine Konsistenzprüfung nehmen mussten. Vielleicht auch steht das Leben als Vater, Sohn und Philosophieprofessor, von dem hier wie nebenbei immer die Rede ist, anderen Arbeitsergebnissen vorübergehend im Weg – aber es ist zugleich genau diese Praxis, die Seel ins Zentrum rückt. Es gibt ein somatisches und lebensweltliches Element in vielen seiner Überlegungen, die auch um Motive des frühen Heidegger und des späten Wittgenstein kreisen (auch Habermas hat ja bemerkt, dass mittlerweile ein Abgesang auf den »linguistic turn« angestimmt werde). Die Themen – Kindheit und Alter, das Leben als Sohn und Vater, Altern und Tod der Eltern, Reisen, beiläufige Betrachtungen zu Kunst und Musik (Kontemplation), die Bedeutungen des aktiven Lebens (Arbeit) – sind nicht durchweg geeignet, den manchmal sehr privaten Horizont im Sinne einer »Theorie« (oder vieler Theorien) zu übersteigen. Aber zusammengenommen tragen sie ihren Teil zu Seels Epistemologie bei. Neben den Konzepten Sprache und objektive Wirklichkeit kommen dabei auch die Gedanken in den Blick: denn sie entspringen der Praxis.

 

Dass man jederzeit an jeder Stelle einsteigen und blättern könnte, wie es der Klappentext ankündigt, stimmt so nun auch wieder nicht. Die Texte bauen aufeinander auf. Sie sind thematisch sortiert, und es gibt einen Rhythmus aus theoretischen Überlegungen und lebensweltlichen Betrachtungen. Insgesamt liegen sie näher bei Wittensteins »Philosophischen Untersuchungen« als bei Adornos »Minima Moralia«. Das gilt auch für die Tatsache, dass Seel fast jeden aktuellen sozialen oder politischen Kontext übergeht.

Am besten sind die Stücke, wo sie ernst sind.

 

Ralf Schulte

 

Martin Seel: Theorien, 256 Seiten, gebunden, ISBN 978-3-10-071010-9

S. Fischer Verlag 2009, 19,95 Euro

 

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