2. Oktober 2009

Kunst als Katapult

 

Ein Jahr nach dem „Vereinigungs“-Aufsatz (1785) projiziert Karl Philipp Moritz die dort vorgelegte Definition des Schönen als eines In-sich-Vollendeten auf den Produzenten des Schönen selbst, den Geist des Menschen. Dieser sei, wie der Titel bereits ankündigt, das Edelste in der Natur. Aber eben deshalb auch Teil der Natur, die auf einem (ewigen?) Weg der Vervollkommnung sei und die mit all ihren Teilen vor allem an der Perfektibilität des Geistes arbeite. Durchaus rousseauistisch spricht Moritz von der „gütigen Natur“ als Begleitschutz des Menschengeschlechts.

 

Die monadische Struktur, die Moritz schon im Aufsatz von 1785 am Schönen festmachte, wiederholt sich auch im folgenden Text über den Geist, mit all den Problemen, die man sich damit einhandelt. Denn auf der einen Seite steht der Geist als etwas Naturhaftes, Unvollkommenes, auf der anderen Seite sei er ein „In-sich-Vollendetes“, etwas also, das keinerlei Veränderung erlaubt. Natur wird aber postuliert als etwas, das in ständiger Bewegung ist, als Zyklus, aber auch als Progression. Natur setze sich immer wieder selbstherrlich (und damit gar nicht so gütig) über die Produktionen des menschlichen Geistes hinweg, die in Vergessenheit geraten, um einer neuen Generation von Geistesheroen Platz zu machen, die ihrerseits das Weite suchen im Orkus der Vergangenheit.

 

Was kann es dann aber heißen, dass der Geist in sich selbst vollendet sei, wenn doch ein klarer zeitlicher Pfeil das Geschick des Menschen immer wieder durchkreuzt und hinfällig macht? Vielleicht hat Moritz diese Problematik selber gesehen, indem er, auf einer zweiten Argumentationsschiene, von einer zweiten Bestimmung des Menschen spricht, nämlich der, um seiner selbst willen da zu sein. Eine solche Rede behält die Differenz zu bloßer Natur bei, derer sich der Mensch bei all seinen Tätigkeiten bedient, und es gelingt Moritz, die Spitze ein wenig abschwächend, den Menschen gewissermaßen als Hochplateau der Natur zu fassen. Ganz anders aber als noch im „Vereinigungs“-Aufsatz bringt Moritz nur ein Jahr später sozialkritische Momente ins Spiel, indem er nicht einfach bloß idealisch von „dem“ Menschen spricht, sondern eine Zweiklassengesellschaft aufmacht, nach der die obere Klasse (zu der sich Moritz, seine Lebensumstände ein wenig beschönigend, selber zählt) die untere Klasse als bloßes Werkzeug benutzt, klassisch gesprochen als Mittel, ohne die für sie Arbeitenden zugleich als Zweck zu respektieren (auch hier findet sich viel Kantisches wieder, aber noch nicht so viel antizipierter Marx).

 

Aber eigentlich geht die Trennungslinie noch weiter, denn auch in der oberen Klasse würden sich die Menschen vornehmlich als Werkzeug gebrauchen. Moritz schreibt: „… man scheint immer einen Theil der Menschen als ein bloßes Werkzeug in der Hand eines andern zu betrachten, der wieder in der Hand eines andern ein solches Werkzeug ist, und so fort.“ Die Diagnose Moritz’ lautet, das Nützliche habe das Schöne verdrängt, und die eigentliche Bestimmung des Menschen, die Veredelung seines Geistes, sei in Vergessenheit geraten. Kann die Natur, zu der die Gesellschaft ja auch zählt, so sehr erkranken? Es tauchen in diesem Text immer wieder klinische Begriffe auf, und das Schöne, das ja ursprünglich als in sich selbst vollendet gedacht war, hat durchaus gesellschaftliche Aufgaben zu übernehmen, nämlich dem Einzelnen und der Gesellschaft zu zeigen, dass der Einzelne vor allem für sich selbst da sei und nicht für den Staat, in dem der Einzelne lebt.

 

Die Therapie Moritz’ ist wiederum sehr idealisch und auch paradox, denn die Millionen Menschen muss man sich als zusammengebündelte Wesen vorstellen, durch deren „Mannichfaltiges“ ein „gemeinschaftlicher Faden“ durchlaufe, „um es zu einem gewissen festen Endzweck zusammen zu knüpfen, und es nach seinem verhältnismäßig größern oder geringern Einfluß auf die allgemeine Bildung des menschlichen Geistes zu ordnen.“ Ist das der rote Faden, nach dem alle Gesellschaftsanalysten so verzweifelt suchen? Muss man ihn sich hier als Gängelband vorstellen oder als Signalelement, das immer dann reagiert, wenn der Betreffende zu wenig „Zweck“ und zu viel „Mittel“ oder „Werkzeug“ plant? Oder liegt hier ein erster Schritt in Richtung Faschisierung der Gesellschaft vor, für die lediglich der Zweck ausgetauscht werden muss?

 

Man sieht jedenfalls, dass sich Moritz mit seinem Postulat des Edelsten in der Natur viele Probleme aufhalst, die er mit seinem Beschreibungsapparat, der das Ökonomische nicht einschließt, nicht lösen kann. Was bleibt, sind Appelle an den Einzelnen, denn nur dieser, und nicht etwa der Staat, interessiert Moritz. Oder auch etwas, das man durchaus Wahn nennen kann, denn zuletzt habe der Mensch immer noch die Möglichkeit, „sich mit einem einzigen Schwunge seiner Denkkraft über all das hinwegzusetzen, was ihn hienieden einengt, quält und drückt.“ Ist das dann die Kunst?

 

Dieter Wenk (09-09)

 

Karl Philipp Moritz, Das Edelste in der Natur, in: Karl Philipp Moritz, Die Signatur des Schönen – und andere Schriften zur Begründung der Autonomieästhetik, hg. von Stefan Ripplinger, Hamburg 2009 (Philo Fine Arts, Fundus 180), S. 17-27

 

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