4. November 2003

Memoiren vom Rande der Zivilisation

„Doktorspiele am Elektroschockgerät“

 

Augusten wird als Sohn eines alkoholkranken Mathematikprofessors und einer mittelbegabten Lyrikerin in Boston geboren. So beginnt der Roman bereits am Rande der Normalität. Der Vater verfällt zunehmend der Trinksucht, die Mutter immer mehr einer Psychose oder vielmehr ihrem verrückten Psychiater. Augusten selbst ist damit in seiner kindlichen Entwicklung dem freien Verfall ausgesetzt, und landet schließlich als Ziehsohn in der jenseits jeder zivilisatorischen Normalität lebenden Familie des Seelenklempners Dr. Finch. Hier wird die freie Assoziation der Freud’schen Psychoanalyse tatsächlich gelebt und Erziehung findet vom Laisser-faire aus gesehen im Jenseits statt. Im Finch’schen Heim leben die Kinder, Ziehkinder und zeitweilig auch Patienten des Doktors. Geschwisterliche Doktorspiele finden am Elektroschockgerät statt, Hygiene ist unbekannt. Zunächst erscheint dem jungen Augusten, der sich seit seiner frühesten Erinnerungen zu Glamour und Sauberkeit hingezogen fühlt und daher in der festen Entschlossenheit lebt, später Showstar oder Arzt zu werden, alles sehr befremdlich. Sein narzisstischer Charakter wächst und gedeiht jedoch, soweit man das so nennen kann, in und an seiner neuen Umgebung zwischen Tranquilizern, Zwängen, Perversion und abgründiger Geborgenheit. Er erlebt eine erste sexuelle Beziehung zum einige Jahrzehnte älteren Stiefbruder (oder ist das Pädophilie?) und lässt sich mithilfe seines Ziehvaters von der Schule, mit der er von Beginn an in wechselseitigem Unverständnis existiert hat, befreien.

 

Das Familienoberhaupt nicht nur ein gesellschaftlicher Überzeugungstäter in Sachen freier Psychiatrie, sondern auch ein ausgekochtes Schlitzohr. Auf der einen Seite gibt es da diese Absurdität, die niemandem schadet, wenn er die aus der von Trier’schen Fernsehreihe „The Kingdom“ bekannte Weissagungstechnik anhand des morgendlichen Stuhlganges noch wesentlich verfeinert. Es orakelt förmlich. Auf der anderen Seite ist er insbesondere in finanziellen Angelegenheiten immer wieder auf die Zusammenarbeit mit der Gesellschaft angewiesen und schreckt nicht einmal davor zurück, seine eigene Tochter zu vermarkten.

 

Geschichten von Kindern psychisch auffälliger Eltern kennt man beispielsweise auch vom Hamburger Autor Michael Weins. Doch wo dort der einsame Held versucht, seinen Lebensweg und seinen Umgang mit seiner Mutter zu finden, so bahnt sich hier eine ganze Horde von goldenen Reitern ihren Weg durch eine abseitige Parallelwelt. Die Nahrung, das Dörrfleisch unter dem Sattel, ist die Freiheit, die man sich nimmt, um so mal eben mir nichts dir nichts zur Erweiterung selbiger zum Beispiel die Decke der Küche zu durchbrechen. Das schafft Offenheit, aber es regnet eben auch hinein.

 

Burroughs schickt den Leser in das Innenleben eines auf Grund seines Umfelds zur Kaputtheit verdammten Charakters. Erträglich wird dieses durch die feinsinnige bis zynische Aufbereitung, die er jedoch auch mit der notwendigen Ernsthaftigkeit vollzieht. Also gelegentlich bitter, kein klassisches Happy End, aber eine aufregende Reise durch die Psyche eines Heranwachsenden in einer Wüste abseits der Zivilisation.

 

So weit, und das verrät der Klappentext und nicht zuletzt auch die Namensgleichheit von Protagonist und Autor, die „eigene“, wahre Lebensgeschichte des Augusten Burroughs. Gen Schluss überwiegt jedoch (etwas mehr als gerade eben) der Eindruck, dass es gerade wegen des Schlusses die „eigene“ Geschichte ist, da sich der Übergang des inzwischen Jugendlichen in ein schriftstellerisches Erwachsenenleben förmlich anbietet. Zwar etwas langweilig, aber zumindest ist damit ein Kompromiss mit der realen Welt gefunden.

 

Obwohl der Roman mit einer kurzen Zusammenfassung, dem geschriebenen Abspann eines Kinofilms gleich, über den weiteren Werdegang der Mitglieder der Familie Finch endet, gibt es offensichtlich bereits eine Fortsetzung. Ob diese der veredelnden Aufpfropfung, wie man sie aus der Wissenschaft der Führung von Obstplantagen kennt, gleichkommt oder unter Ausnutzung des Erfolgs aus rein pekuniärem Interesse geboren ist, muss vorerst dahingestellt bleiben. Also, abwarten.

 

Tobias Else

 

„Running with Scissors: a memoir“ von Augusten Burroughs, Picador 2002