15. September 2009

Der Leutnant

 

Dieser Text behandelt lediglich ein Charakteristikum der Kunst von Dirk Stewen. Der Text rankt sich an drei ausgestellten Ensembles entlang: Den großen Tuschen mit den Böcken davor, der großen blauen Papierbahn mit den schwarzen Stäben und der Eingangsarbeit mit den übereinander gestapelten Böcken.

 

 

Die Tuschen

 

Zu sehen sind zwei große lichtschluckende, mit schwarzer Tusche eingefärbte, aus großen Bögen Fotopapier montierte Bilder. Vor ihnen je ein schwarzer Tischbock, der auf halber Höhe einen farbig eingefärbten Stab balanciert.

 

Der schwebende, farbige Stab verstärkt das den Tuschen immanente Schweben oder Flirren. Ein Phänomen vergleichbar mit dem der Nachbilder, die in unseren Köpfen entstehen, wenn man seinen Augapfel drückt, einen Schlag auf den Kopf erhält, wenn man in die Sonne schaut, kurz: Wenn man Sterne sieht.

 

Man ist durch die Böcke auch an einen Altar erinnert, über dem ein Heiligenbild platziert ist. Ohne den religiösen Charakter überzustrapazieren, kann man behaupten, dass diese beiden Bild-Objekt-Konstellationen eine freundliche, der Tradition eines Andachtsorts vergleichbare Atmosphäre schaffen.

Die Tuschen sind Respekt gebietend, vom Betrachter getrennt durch den Bock, aber nicht abweisend. Die farbigen Schnipsel blinken vertraut, wie Lichter einer bekannten Umgebung. Tatsächlich vertraut, da man sich hier in den Tiefen der Kulturgeschichte bewegt, eben der Konstellation: Barriere mit dahinter liegendem Bild – Zentralperspektive, wie bei einem Altar, einem Lettner, also Chorschranken, oder auch der Absperrkordel eines Museums etc., ohne dass diese Absperrung das eigentliche Thema der schwarzen Tuschen wäre, denn man findet diese Art Tuschen auch ohne Böcke in der Ausstellung.

 

Wichtig ist an den Böcken aber doch die Betonung der Distanz, so wie ein Lettner eben kategorisch die Laien von den Geistlichen trennt. Aber als schmuckvolle Barriere oder Altartisch nah zu sich heranlockt als ein letztes Ding, an dem man sich festhalten kann, und, man weiß das aus der Kulturgeschichte, ganz knapp bevor man sich mit theologischen Fragen herumschlagen muss, denn hinter der Barriere beginnt – um es sehr kurz zu machen – auch hier die Unendlichkeit.

 

Man kann den Böcken vor den Bildern auch die Position eines Leutnants zuweisen, es ist die Position desjenigen, der die Meldung des genauen Standorts an eine hierarchisch höher gestellte Position durchgibt, der »lieu tenant«, (in Ableitung von »lieu tenir«, frz. Statthalter), er hält die Position fest. Also der Bock oder der Leutnant ist das Ding, auf das man sich verlassen muss. So wie ein Lettner eben zuverlässig verhindert, dass der Bischof auch während der Messe neben dem Nachtclubbesitzer sitzt. Es geht um Grenzen, um Macht und um eine große assoziative Freiheit, die sich erst in der fast brüsken Distanzierung entfaltet.

 

Diese beiden großen Tuschen mit den davor postierten Böcken oder Leutnants sind dabei noch das Entgegenkommenste der ganzen Schau im Overbeck-Haus, denn man hat es ansonsten mit ausgesprochen arroganter Kunst zu tun, die unbeirrt die allerhöchste Konzentration von ihren Betrachtern verlangt, ohne diesen dafür zu belohnen, in dem sie sich etwa einem Verständnis öffnete, welches einen befrieden würde. Zum Beispiel weil man den Witz verstanden hat, die Anspielung bemerkt oder ganz simpel in irgendwelcher Farbigkeit schwelgen könnte, diese Techniken der Annäherung sind meiner Meinung sämtlich ziemlich unbrauchbar für die Betrachtung der Kunst von Dirk Stewen.

 

Dirk Stewen hält seine Kunst in ausgesprochen strenger Zucht, dieser Tatbestand überträgt sich unmittelbar auf den Betrachter. Es geht um Contenance. Ein kommunikatives Mittel der Abgrenzung, Haltung, Fassung, Selbstbeherrschung. Die Arroganz, das völlige Fehlen eines mitteilsamen Plaudertons, welcher plätschernd über alle möglichen Schwierigkeiten hinwegginge, wie »smal talk« eben, eröffnet nun die eigentliche Betrachtung. Und hier kommt man an den Punkt, an dem man konstatieren kann, dass man idealerweise allein in den Ausstellungsräumen stünde. Am besten körperlos, nur als Auge, da einen das eigene Gewicht, das Knarren der Dielen oder was auch immer nur vom Geschäft der Dissoziation ablenken würde (Dissoziation als eine Unterbrechung der eigenen Bewusstheit), das, was man als Betrachter wirklich sehr gerne tut bei Kunstbetrachtung – sich nämlich einmal auszufädeln. Festzuhalten ist bereits hier, dass es besonders gut funktioniert, eben weil man zurück- oder in die Schranken verwiesen ist durch die schwarzen Böcke.

 

 

Die blaue Papierbahn mit den schwarzen Stäben

 

Was ist zusehen. Am Boden ein Fotohintergrund in Himmelblau, was in Fotostudios gerne Verwendung findet, weil Himmelblau immer eine angenehme Gesichtsfarbe macht. Und Vorsicht! Das ist eine Falle, eine Schmeichelei, wie es viele Schmeicheleien in den Werken von Stewen gibt. Die blaue Papierbahn wirbt um unsere ungeteilte Aufmerksamkeit, aber was ist noch zu sehen? Zwei schwarze Stäbe und dreimal Flachware – Papierblätter an der Wand.

 

Die Schrift auf dem mittleren Blatt kann man aus der Entfernung nicht entziffern, lediglich die Überschrift. Wieder distanziert sich das Werk vom Betrachter. Man findet den Text noch einmal in leserlichem Abstand in der Ausstellung. Das ist ein Angebot, wird aber nichts erklären. Den Text noch einmal leserlich zu zeigen, heißt lediglich, dass der Künstler um das Bedürfnis der Betrachter weiß, sofort alle Informationen zu scannen, die Kunst an der Oberfläche anbietet. Und wer lesen kann, liest natürlich sofort los: Signaturen, Jahreszahlen, Sätze, man sammelt als Betrachter Indizien – immer.

 

Hier geht es aber eben gerade darum, diese hastige Akkumulation von Informationen zu unterbrechen. Lesen kann man nur »The Road«, alles andere verschwimmt. Dieser Augenblick des Verschwimmens ist ziemlich genau der Moment, den man poetisch nennt, (worüber der Text eben auch referiert, aber ich wollte ja nicht in den verführerischen assoziationsgeleiteten Weg einbiegen, denn das Bild geht immer noch weiter).

Ähnlich wie bei den schwebenden Rundhölzer vor den Tuschen, befinden sich hier stehende kantige Stäbe in einem gewissen fragilen Gleichgewicht.

Diese Stäbe lehnen nicht lässig an der Wand, auch nicht steif und unbeteiligt, sondern »gewiss«. Die Stäbe haben gewisse Aufgaben zu erfüllen. Einige davon sind schnell aufzuspüren, sie verdecken das Schriftbild, verbinden die am Boden liegende blaue Rolle mit den darüber hängenden Blättern.

Man kann ihnen wiederum die Rolle des Leutnants zuschreiben, es sind Stellvertreter für die Beglaubigung nach oben.

Die Meldung des Standorts durch den Leutnant ist keine abstrakte Mitteilung. Er stand, zumindest bis vor Kurzem, in militärischen Ordnungen vorne links und bildet mit der Formation im Rücken eine In-formation, die garantierte, dass das Wahrgenommene auch tatsächlich dem Erlebnis-, Macht- oder Kampfwert entsprach.

 

(Komisch ist die Behauptung eines lieu-tenants vor allem, weil ich gerade versuche, ihnen etwas aufzuschwatzen. Und meine momentane Position als Berichterstatter ist in den Würdeformeln des Kunstbetriebs schließlich auch die eines Leutnants, ich mache hier nämlich gerade Meldung.)

 

Was nun, wenn man wie hier als Betrachter als Erstes eine Art Vorgesetzten in einem Bild entdeckt? Einen Stab zum Beispiel, der dem Bild vorsteht, verantwortungsvoll und entsprechend strikt, nämlich mit Rückgrad, und wie sich das für fesche Offiziere gehört, eben auch arrogant.

Wir kommen als Betrachter nicht an ihm vorbei, er kontrolliert sozusagen die Informationen, die die hinter ihm stehende Formation preisgeben möchte, das aber nicht glaubhaft machen kann, denn das kann nur der diensthabende Offizier.

 

Die Arrangements von Dirk Stewen bergen stets eine inhärente Machtstruktur, daher rührt der Eindruck der Zucht, einer Ordnung, die die unterschiedlichen Bestandteile zusammenhält und ihnen das wahllose Durcheinanderplärren und Zusammenlaufen untersagt. Das sind allerdings die Fallen, in die man als Betrachter tappen kann, dann hat man nämlich den Leutnant übersehen, und dann plappert ein Bestandteil eines Gesamtarrangements einem das Hirn voll (was natürlich erlaubt ist), wie zum Beispiel der Text, der unter »The Road« beginnt, ein wirklich wunderschöner Text über Pissaros Malerei. Über den man dann aber die Fotografie in der Dokumentenhülle vergisst und den fast leeren Zettel, auf dem sich nur noch ein zartes Gespensterbild abzeichnet, und was macht man mit der gefalteten Tusche, die ein wenig zerzaust ihre Nähte baumeln lässt? Besser, man glaubt dem Leutnant. Der die Sache als ein Bild gebündelt und hoffentlich »richtig« darstellt.

Es gibt bei Kunst allerdings keine letztinstanzlichen »richtigen« Regeln, sonst wäre sie ja ein Verstehensproblem oder eine durch ein anderes kognitives Verfahren zu lösende Aufgabe.

Dennoch lassen sich Fragen der Evidenz bei Kunstbetrachtung ganz besonders gut zuspitzen. Bei Evidenz oder Eindeutigkeit wird es immer ein bisschen bescheuert (Gottesbeweise, Schönheitswettbewerbe, Wahlen aller Art), das ist bekannt, denn wer Evidenz beweisen will, erschleicht einen Beweis, weil er das unterstellt, was er beweisen will. Wer aber Evidenz kritisiert oder gar zurückweist, ist selbstwidersprüchlich, weil er auf der Metaebene der Äußerung ebenfalls Evidenz behaupten muss (so etwa Wolfgang Stegmüller). Das ist abstrakt gesprochen das Problem des Leutnants, der aber ja nur Meldung nach oben macht. Das Problem der Kunst ist diese Evidenzfrage eben umso mehr, da sie keine oberste hierarchische Ebene kennt. (Obwohl, unübersehbar, die großen Museen diese oberste Ebene für sich beanspruchen – was allerdings Blödsinn ist.)

 

Zurück zur Ausstellung. Es geht hier um moralisch-ästhetische Regeneration durch Gewalt oder eben Zucht. Dirk Stewen verhindert kontinuierlich, dass sich einzelne Bestandteile seiner Kunst verselbstständigen und ein Eigenleben an den Tag legen, was man ihnen womöglich gar nicht zugetraut hätte, eben die schmeichelnde Fertigkeit, uns völlig vor einer Sache zu verlieren, abzuschweifen, zu dissoziieren. Und damit man spornstreichs wieder aus dem Träumen rauskommt, denn wir haben es hier schließlich nicht mit einem Tierfilm zu tun, wird wie mit einem Warnschuss das moralische Schlachtfeld immer wieder neu aufgestellt. Originalität, Réverie, Zufall, Romantik, Melancholie, Unendlichkeit, weiß der Henker, diese Liste lässt sich wirklich aufs Unerquicklichste verlängern ... das sind Freischärler, Partisanen und für die bildende Kunst nicht ganz ungefährliche Gesellen, sie arbeiten, wie ja bekannt, auch für die Kitschindustrie, halten sich nicht an die Regeln, verzetteln sich und sacken haltlos in sich zusammen, wenn man sie scharf anschaut.

 

Was ich herauszustreichen versuche, ist, dass Dirk Stewen diese Partisanen versammelt, einen von ihnen zum Leutnant macht und damit die ganze Bande unter Kontrolle bringt. Die Arroganz der Macht, die Dirk Stewen erteilt, ist hier also sehr nützlich, da Arroganz es überflüssig macht, die Eigenheiten der disparaten Materialien zu vereinheitlichen. Die Unterschiede, die sich zwischen einem blauen, gute Laune suggerierenden Fotohintergrund und einer schwarzen schweren Tusche auf Fotopapier ausmachen lassen, bleiben unangetastet verschieden, gehören aber hier in ein Bild. Das ist durchaus regenerativ für die Partisanen, die schließlich tagaus, tagein auch für die Werbung arbeiten, da allerdings immer zu einem gefühlvollen Brei zusammengerührt ohne Trenn- und Tiefenschärfe.

 

Die Eingangsarbeit

 

Wenn man nun die Truppe im Eingangsbereich der Ausstellung ansieht, kann man erklären, warum diese wirklich eine Einleitungsarbeit ist, was natürlich bereits die Position an der Eingangstür wie auch das dazugehörige Textblatt nahelegt (darauf steht »Introduction by Stephen Spender«). Diese Formation ist verglichen mit den übrigen Arrangements lose, es scheint hier nicht ganz ausgemacht, wer der Leutnant für diese Truppe ist, sie sammeln sich scheinbar gerade erst am Eingang.

Wer behauptet also hier die Evidenz?

Noch laufen die Assoziationen kreuz und quer, schwarzer Bock, schwarzer Rahmen, schwarzes Taftband mit farbigen Pailletten, paillettengroße Kreise, die in einem französischen Stundenblatt fehlen, so wie einem etwa die Erinnerung fehlt, wenn man zu lange auf Gomera gekifft hat – die mittlere Fotografie ist auf Gomera aufgenommen, und wieder Text, diesmal auch noch über die Jagd und die Zeit. Alle Bestandteile konkurrieren um unsere Aufmerksamkeit. Wer ist der lieu tenant?

Der Leutnant, und diesen ironisch-mokanten Aspekt in der Kunst von Dirk Stewen darf man nicht vergessen, der lieu tenant ist in dieser Arbeit die Pforte der Overbeck-Gesellschaft, diese garantiert den Eintretenden Kunst, nichts anderes.

 

Nora Sdun

 

Ausstellung: Dirk Stewen - Exercises

13.09.09 - 25.10.09

Overbeck-Gesellschaft, Königstraße 11, 23552 Lübeck

 

www.overbeck-gesellschaft.de