9. September 2009

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Avantgarde war eine ausgesprochen eurozentrische Angelegenheit, um es mit einem dämlichen Begriff zu sagen. Die „Out-of-Africa“-Theorie findet hier keine Bestätigung. Geografisch spielte sich das zunächst in Italien, Frankreich und Deutschland ab. Viele Länder folgten, bereits als Nach-Avantgarde. Die erste ernst zu nehmende Avantgarde-Gruppe (die sich, wie alle folgenden in der ersten Jahrhunderthälfte, gar nicht, oder nur marginal, „Avantgarde“ nannten) war der italienische Futurismus, dessen erstes von zahllosen nachgereichten Manifesten man auf Französisch im erzkonservativen „Le Figaro“ im Februar 1909 lesen konnte.

 

Wer Futurismus sagt, sagt auch (muss auch sagen) Faschismus. Deshalb taucht dieser Begriff auch in diesem Lexikon als Lemma auf, nicht jedoch die Kategorie „Nationalsozialismus“ (die Futuristen waren gegen die deutschen Rassengesetze). Die Futuristen drehten keine Filme und machten keine fotografischen Experimente. Sie malten und schufen Skulpturen. Benutzten also ganz traditionelle Medien. Sie versuchten, das Moderne, zum Beispiel die Beschleunigung der gesellschaftlichen Verhältnisse oder die Konstruktion von Bewegung aus der Staffelung von Standbildern im traditionellen Tafelbild vorzuführen. Zu sehen war dann etwa ein Dackel, den man auf einem Ölbild circa zwanzig Mal sah, aber gewissermaßen nur als statisches Ruckelbild, in Scheibchen, à la Muybridge. Trotzdem sollten, einem heißen Wunsch der Futuristen nach, die Bibliotheken und Museen brennen. Alles, was nach Passatismus roch, sollte zu Grunde gehen, einschließlich Venedig mit seiner gerade recht neu gegründeten Biennale mit der ganzen Atelierkunst.

 

Aber die Futuristen konnten sich 1910 auf der Biennale kaum Gehör verschaffen, sie gingen in den allmächtigen Brauntönen unter. Mit den Faschisten fand man dann aber doch verständnisvolle Förderer, immerhin gab es Gemeinsamkeiten wie die Verherrlichung des Kriegs und die Technikbegeisterung. Ohne den militanten Grundzug ist Avantgarde (der Begriff selbst stammt ja aus dem Militärischen) nicht zu verstehen. Die nach dem Zweiten Weltkrieg auftretende sogenannte „Neoavantgarde“ hat ja auch noch dieses Militante – man denke an die Wiener Gruppe, den Wiener Aktionismus, aber es war eine Haltung, die eben schon einmal geprobt worden war (von den sogenannten „historischen Avantgarden“, so Peter Bürger) und die man nicht einfach so noch einmal kopieren konnte. Bleibt zu fragen, gegen was und wen sich Avantgarde richtet, gegen „die“ Gesellschaft, oder doch nur gegen bestimmte (alte) Spielarten von Kunst? Avantgarde also als Spielart formalistischer Betrachtungsweise?

 

Genau in diesem Sinn ist es durchaus plausibel, dass in diesem sehr lesenswerten Lexikon auch ein Beitrag zu „Postmoderne“ gelistet ist. Also in der von Lyotard ein wenig forcierten Bestimmung, nach der etwas erst dann modern werden kann, nachdem es postmodern gewesen ist – und dieses Verhältnis ist zeitlich durchgängig. Jede Avantgarde hat danach das Zeug, zum Klassiker zu werden. Ist heute noch Avantgarde? Vermutlich nicht mehr im Peter-Bürger-Sinn, wonach es den historischen Avantgarden darum gegangen sei, Kunst in Leben zu überführen (systemtheoretisch eine ziemliche Nuss). Wohl aber in dem Sinn, den Begriff von Kunst immer noch weiter auszureizen, Stichwort Transgression (ob man Fluxus als erste „postmoderne Avantgarde“ bezeichnen muss, wäre dann die Frage). Rückschritte im Anspruch von Kunst ließen sich so durchaus als Fortschritt im Sinne des gerade Kunstmöglichen begreifen (Joseph Beuys wäre dann nur noch historisch interessant).

 

Der Aufbau dieses Metzler-Lexikons gliedert sich in seinen ca. 220 Artikeln, die von achtzig Autoren verfasst wurden, in vier große Bereiche: es finden sich Artikel zu einzelnen Avantgarde-Bewegungen und „Ismen“ (also etwa Cobra, Fluxus, Dada), solche zu einzelnen Kunstgattungen (Architektur, Film, Design, Zeitschriften), außerdem Lemmata zu einzelnen Kunstformen und Kategorien der Avantgarde und Avantgarde-Forschung (Collage, Manifest, Abstraktion) und schließlich solche zu einzelnen Ländern, Regionen und Sprachen. Das Verhältnis der Großbegriffe „Moderne“ und „Avantgarde“ zueinander hätte man sich vielleicht noch etwas ausführlicher gewürdigt gewünscht, aber das tut dem Rang dieses Lexikons keinen Abbruch. Ein kleiner Fehler in den Literaturangaben zum Lemma „Situationistische Internationale“: Es muss dort heißen: „IN GIRUM IMUS NOCTE ET CONSUMIMUR IGNI“, erst so ist das schöne Palindrom als Palindrom zu lesen.

 

Dieter Wenk (08-09)

 

Hubert van den Berg/Walter Fähnders (Hrsg.), Metzler Lexikon Avantgarde, Stuttgart/Weimar 2009 (Metzler)

 

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