5. September 2009

Der hinfällige Geheimtipp

 

Fantasievoll und einfallsreich erzählt der mexikanische Autor Salvador Plascencia einen Roman von Liebe und Finsternis und wandelt dabei zwischen den realen und fiktiven Welten.

 

Geheimtipps sind grundsätzlich mit Skepsis entgegenzunehmen! Erst recht diejenigen, die Journalisten auf Buchmessen von den zahlreichen Verlagsvertretern mit den besten Empfehlungen in die Hand gelegt werden. Salvador Palscencias „Menschen aus Papier“ wurde dem Rezensenten als ein solcher Geheimtipp übergeben. Dieser stellte das Buch zu den vielen anderen Geheimtipps, holte es in den vergangenen Monaten immer mal wieder hervor und legte es dann wieder auf einen respektablen Stapel mit bald zu lesenden Büchern, weil anderes wichtiger oder lesenswerter schien.

Inzwischen hat sich einiges getan, und der Geheimtipp ist längst schon keiner mehr. Plascencias Roman ist im Frühjahr auf der Bestenliste „Weltempfänger“ der Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika (litprom) erschienen und hat es auch bis unter die letzten 14 Romane geschafft, die für den „Internationalen Literaturpreis – Haus der Kulturen der Welt“ nominiert wurden. Dort ist er zwar inzwischen aus dem Rennen, aber bei 131 Bewerbern ist das dennoch eine respektable Leistung. Der Erfolg des Romans ist nicht verwunderlich, denn „Menschen aus Papier“ ist wie ein sorgfältig gefaltetes Origami-Kunstwerk höchster Kategorie. Zahlreiche Figuren sind in die vielschichtige Erzählung auf den unterschiedlichsten Ebenen eingebunden. Zeitliche Kategorien wie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verlieren jegliche Bedeutung, und die Erzählung springt zwischen Fiktion und scheinbarer Realität hin und her.

Dabei wird die innere Struktur des Romans auf kongeniale Weise auf das Layout des Romantextes übertragen. Jede Figur spricht für sich und präsentiert ihre Sicht auf die Dinge, sodass sich das Panorama der Erzählung nur aus den vielen Stimmen der handelnden Personen zusammensetzten kann. Neben dem gewohnten Blocksatz verläuft der Text auch in biblischen Spalten, um gleichzeitige Ereignisse und Gedanken nebeneinanderstellen zu können. Der Fließtext läuft auch über die Seite hinaus in die Unendlichkeit oder verblasst, bis er im Weiß der Buchseite verschwindet. Zwischen den Zeilen finden sich verschiedene Symboliken, die einzelne Textaussagen vergegenständlichen sollen. Manche Passagen werden von dunklen Schatten verdeckt, die das Lesen der darunter liegenden Zeilen unmöglich machen. Für die Umsetzung dieser grafischen Literatur in der Buchgestaltung gebührt dem herausgebenden Nautilus-Verlag sowie den Freiburger Graphischen Betrieben bereits an dieser Stelle das größtmögliche Lob.

Plascenias Roman ist eine Liebeserzählung, aber auch eine Geschichte von Fanatismus und Krieg. Und vor allem ist sie eine Geschichte der Traurigkeit, die als Keimzelle sowohl Liebe als auch Krieg evoziert. Der Ausgangspunkt von Plascencias Roman ist daher auch ein zutiefst trauriges Ereignis. Der kleine Antonio findet seinen Kater Figaro tot auf der Straße, ausgeweidet von einem Metzger. Er nimmt die leblose Hülle mit und beginnt, die Organe des Katers mit Papier nachzubilden. „Und noch bevor die letzte Schicht verknitterten Papiers glatt gestrichen war, spielte Figaro bereits mit seinem Schwanz.“

So beginnt es, das Leben aus Papier, von dem Plascencia in seinem Roman auf vielfältige Weise erzählt. Im Mittelpunkt stehen dabei immer wieder melancholische Tragödien des Alltags. Wie die von Federico de la Fe, dessen Unglück darin besteht, inkontinent zu sein. Seine Frau, und Mutter der gemeinsamen Tochter, verlässt ihn, weil sie den Gestank seines Urins nicht mehr ertragen kann. Erst dieser Schock heilt de la Fe von seiner Bettnässerei. Doch es ist zu spät, seine Frau ist längst über alle Berge, und in ihm wächst die Traurigkeit. Und mit ihr die Wut auf sein Schicksal, welches er von einer größeren Macht gelenkt sieht. Den mächtigen Saturn macht er für sein Leid verantwortlich. Er mobilisiert zahlreiche andere unglückliche Wesen für seinen scheinbar galaktischen Kampf gegen einen Gegner, hinter dem sich kein Geringerer als der allwissende Erzähler verbirgt.

Plascencia beschreibt in seinem Roman also nichts Geringeres, als einen Krieg der Romanfiguren gegen ihren Schöpfer. Saturn alias Salvador Plascencia kommt schon auf den ersten Seiten als Sensenmann daher, sodass auch schnell klar ist, welche Rolle er in dem Roman einnehmen wird. Im Mittelalter, in dem man den Saturn traditionell mit einer Sichel oder Sense dargestellt hat, repräsentierte der Saturn zwei Dinge: einerseits das schlechte Schicksal, Sorgen, Melancholie und Krankheiten, andererseits aber auch Ordnung und Maß. In diesem Roman reflektiert ein Autor seine allmächtige Funktion als Schöpfer von schicksalhaften Biografien, aber auch als Kreationist einer irgendwie geordneten Welt. Denn letztlich ist es der Autor, der die Vielfalt der Sprache bändigt und Ordnung im Figurenkabinett schafft.

Und dennoch oder vielleicht auch erst recht gehen Placencias Romanfiguren auf die Barrikaden. Sie wehren sich gegen seine Allmacht, ihr Leben nach seinen Vorstellungen und Wünschen auszugestalten und zugleich auch gegen die Dreistigkeit des Lesers, sich darüber ein Urteil zu erlauben. Zuweilen bekommt man dabei den Eindruck, dass hier nicht mehr ein Autor seine Figuren nach seiner Pfeife tanzen lässt, sondern dass er von seinen eigenen Geschöpfen vorgeführt wird. „Wir führen Krieg gegen eine Geschichte, gegen die Geschichte, wie Saturn sie beschreibt.“

Je erfolgreicher de la Fe und seine Mannen ihren Krieg führen, desto wirrer wird auch die Erzählung und zerfällt in Kleinstteile. Mit der Verdrängung des Autors aus seiner eigenen Erzählung geht auch seine ordnende Hand verloren. Immer mehr Personen erheben immer öfter ihre Stimme, sie fallen sich gegenseitig ins Wort, die Rufe aus Vergangenheit und Zukunft erschallen gleichzeitig, Texte legen sich auf die Seite. Der Roman verkommt zu einem Dschungel. Erst als Saturn alias Plascencia wieder die Macht über seinen Roman erringt, ordnen sich die Dinge.

Mit den „Menschen aus Papier“, denen Plascencia seinen Roman gewidmet hat, sind vorrangig die fiktiven Wesen der Romanwelt gemeint, denen er ein nahezu völlig autonomes Eigenleben zugestehen möchte. Es sind aber auch tatsächliche Wesen aus Papier gemeint, Menschen wie Merced de Papel oder Tiere wie Antonios Kater Figaro. Diesen Wesen kann nur Wasser gefährlich werden, da es sie in einen leblosen Brei verwandelt. Plascencia entwirft mit diesen skurrilen Personen in seinem Roman eine Leidensgemeinschaft, die sich der permanenten Überwachung durch Autor und Leser widersetzt. Dem gemeinsamen Kampf zum Trotz verharrt jede der Figuren in der ihr eigenen Traurigkeit und Angst. Die deutsche Übersetzung von Conny Lösch greift den melancholischen Grundton der Erzählung wunderbar auf.

Dieser Roman ist ein Meisterwerk der Fantasie und ein Schelmenroman über das Wesen des Schreibens. Es ist ein Roman zur Überwindung der Traurigkeit, und als solcher zeigt er auf, wie viel Schmerz und Trost in der Literatur liegen kann.

 

Thomas Hummitzsch

 

Salvador Plascencia: Menschen aus Papier. Aus dem Englischen übersetzt von Conny Lösch. Edition Nautilus, Verlag Lutz Schulenburg. Hamburg 2009, 246 S. 19,90 €. ISBN: 389401587X

 

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