27. August 2009

Hartgekocht - zwei

 

Gleich neben dem „Fiktionär“ befinden sich die Geschäftsräume eines Realitätengeschäftes. Man muss seine Nase schon besonders eng an die nikotingelbe Scheibe pressen, um zu erkennen, welche Realitäten dort zum Kauf angeboten werden. (Den Farbton „Nikotingelb“ besorgte sich der Inhaber, wie ich später erfahren sollte, von einer Firma Böll aus Köln, die es aber nicht mehr geben soll.) Es gibt dort nichts, was man nicht schon gesehen hätte. Altbekannte Realitäten. Sie bieten „Zauberberge“ an, „Männer ohne Eigenschaften“ (wobei die wieder schwer in Mode kommen sollen) und „Glasperlenspiele“. Antigravitationsstücke halt, die die meisten schon zu Hause stehen haben. Die anderen werden weiterhin an diesen Läden vorbei stolzieren. Man bleibt unter sich und bei den Designerstücken aus dem Hause Random.

Als ich mich dem „Fiktionär“ zuwende fällt mein Blick auf einen Typen, der aussieht wie James Mason. Er wischt sich mit einem Stofftaschentuch beständig Sabber aus den Mundwinkeln. Ansonsten wirkt er unauffällig. Steht einfach da und starrt die Straße rauf und runter.

„Das ist eine Modifikation von Humbert Humbert“, klärt mich der Türsteher auf. „Und Sie? Aus welchem Roman stammen Sie?“, frage ich ihn. Er trägt einen Jogginganzug. Seine Zähne sehen mir nicht echt aus. Die Haare sind schütter. Er raucht die Zigaretten der Marke Kool. „Eigentlich wollte ich mit dem Rauchen aufhören“, sagt er. Über seinen Roman schweigt er sich einfach aus. Er öffnet die Tür und lässt mich rein.

Im „Fiktionär“ wird natürlich geraucht. Literarische Gestalten halten sich selten lange mit geltenden Rechtslagen auf. Ich bin hier mit Marc Lucas verabredet, einem der neuen aufstrebenden Romanhelden. Sebastian Fitzek hat ihn für „Splitter“ engagiert und seitdem hat es eine Menge Trubel um Lucas gegeben. Ich drücke mich an einem gewissen Adamsberg vorbei und stehe plötzlich zwischen einem Belgier und einem Pfeife rauchenden Franzosen, die sich darüber streiten, wer in den besseren Romanen auftreten durfte. Die Luft ist voller Schall, Rauch und Eitelkeiten. Man hat mich vorher gewarnt. Plötzlich tippt mir jemand auf die Schulter. Ich drehe mich und stehe vor einem grinsenden Typen in Jeanshose und Turnschuhen. Er streckt mir die Hand entgegen. „Marc Lucas?“, frage ich. Er nickt und schüttelt meine Hand. Ich bin erstaunt, dass Lucas auch privat seine Berufskleidung trägt. Das tun manche. Aber die meisten versuchen ihren Rollen zu entkommen. Holmes, der heute auch hier ist, trägt einen knallroten Lackanzug. Außerdem raucht er Selbstgedrehte. Lucas zieht mich ans Ende der Bar. Wir quetschen uns an einen Tisch, der mit Nüssen und Wasserflecken übersät ist. „Du weißt ja“, schreit Lucas auf mich ein. „Wasserflecken spielen in dem Roman ja auch eine Rolle.“ Ich überlege. Stimmt. „Und die Nüsse?“ „Die haben nichts zu bedeuten“, sagt er. „Die lagen schon hier. Aber die Wasserflecken sind von mir.“ Er zeigt quer durch den Raum. „Dort drüben ist Haberland.“ Ich versuche Haberland zu erkennen. „Der Dicke dort?“, schreie ich ihm ins Ohr. Er verneint. Egal. Mit Haberland habe ich ja auch keinen Termin. Ich krame ein Tonbandgerät raus und frage ihn, ob es in Ordnung geht, wenn ich das Gespräch aufzeichne. Lucas hat nichts dagegen. Hier ein Auszug aus unserem Gespräch:

 

Rohm: War „Splitter“ dein erster Roman?

Lucas: Ja. Es war eine verdammt aufregende Zeit.

Rohm: Hast du schon ein neues Angebot?

Lucas: Bisher noch nicht. Ich hoffe natürlich auf einen weiteren Roman mit Fitzek. Die Zusammenarbeit war wirklich klasse.

Rohm: Wie ist Sebastian Fitzek so?

Lucas: Irgendwie unwirklich. Es war ziemlich komisch, plötzlich vor ihm zu stehen und ihm die Hand zu schütteln. Ich kannte ihn bisher nur als Name auf Büchern. Ich war echt aufgeregt. Als würde man dem Weihnachtsmann die Hand schütteln.

Rohm: Du spielst einen Kerl, der ein Trauma mit sich rum schleppt.

Lucas: Na, kann man ja auch gut verstehen. Dieser Lucas, den ich spiele, hat durch einen selbstverschuldeten Autounfall seine Frau verloren. Und mit ihr sein ungeborenes Kind. Das hinterlässt schon Spuren.

Rohm: Er stößt dann auf eine Annonce.

Lucas: Genau. Da ist diese …

Bedienung: Kann ich Ihnen etwas zu trinken bringen?

Rohm: Sie sehen doch, dass wir hier ein Interview führen. Kommen Sie später wieder. Wo waren wir …?

Lucas: Die Annonce. Da ist diese Klinik, die sich mit dem Vergessen beschäftigt. Mit dem Löschen von Erinnerungen. Und da werde ich natürlich hellhörig.

Rohm: Du bist nur kurz in der Klinik und willst auch gar nicht an diesem Experiment über das Vergessen teilnehmen. Aber als du dann zu Hause bist …

Lucas: Sag es nur. Die Realität ist im Arsch.

Rohm: So kenne ich dich gar nicht aus dem Roman.

Lucas: Man sollte da nichts verwechseln.

Rohm: Der Roman hat mich in vielen Passagen an Philip K. Dick erinnert.

Lucas: Wow. Das hat noch keiner gesagt. Das werde ich Fitzek schreiben.

 

Marc Lucas tippt kurz unter der Tischfläche etwas in sein Handy.

 

Lucas: So. Ist gesendet.

Rohm: Jetzt habe ich doch eine trockene Zunge.

Lucas: Dann lass uns einfach etwas bestellen.

Rohm: Die Bedienung scheint sich in Luft aufgelöst zu haben.

Lucas: War eine Aushilfe aus Canterbury. Und wie fandest du den Roman nun?

Rohm: Verflucht spannend. Und sehr atmosphärisch. Man kann nicht aufhören, bis man zur letzten Seite gekommen ist.

Lucas: Und der Stil? Die Sprache?

Rohm: (lacht laut) Halt! Hier läuft was schief. Ich will dich befragen.

Lucas: Und der Stil? Die Sprache?

Rohm: Glasklar. Packend. Zufrieden?

Lucas: Wie fandest du mich als Marc Lucas?

Rohm: Nein, so geht das nicht. Aber damit du mich nicht weiter nervst. Du warst klasse. Eine echte Meisterleistung.

Lucas: Verflucht. Jetzt werde ich auch noch rot.

Rohm: Willst du uns nicht doch etwas über deine Pläne erzählen? Was wird nach „Splitter“ kommen?

Lucas: Jetzt mache ich erst mal Urlaub. Und dann sehen wir weiter.

Rohm: Vielen Dank für das Gespräch.

Lucas: Gern. Ich hätte da noch eine Frage …

Rohm: Keine Fragen.

Lucas: Nur die eine.

Rohm: Dann frag halt.

Lucas: Wer bist du eigentlich? Und verflucht, was ist das für eine Bar?

 

Marc Lucas sieht mich einem angsterfüllten Gesichtsausdruck an. Er scheint mich tatsächlich nicht mehr zu kennen. Er sieht sich nervös um und springt plötzlich auf. „Wo ist Sandra?“, schreit er. „Wo ist meine Frau?“ Er packt nach einem Mann. „Wo bin ich hier?“ „Beruhigen Sie sich“, sagt der Mann. „Ich bin Arzt. Mein Name ist Haberland. Es ist alles in Ordnung. Die Lösung ist da. Sie müssen sich nur erinnern.“ Haberland zieht ihn nach draußen.

Ich bleibe am Tisch zurück. Ein sauberer Tisch. Ein sehr sauberer Tisch. Ein zu sauberer Tisch …

 

Guido Rohm

 

Sebastian Fitzek: Splitter, Roman, Droemer 2009

 

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