Dienst am Zuschauer
Man könnte sagen, dass das Schema, auf das sich dieser Film bezieht, erst nachgereicht wird. Wenn man es aber zur Kenntnis genommen hat, wird man sich daran erinnern, dass das Drama, das sich darin verkörpert, sich tatsächlich, und zwar in der Mitte des Films, zugetragen hat. Bis es soweit ist, wird einem ordentlich der Kopf gewaschen. Man ertrinkt in einer Flut von Namen, die man kürzer oder länger nicht richtig zuzuordnen vermag. Für die Dienerschar muss man sich sogar zwei Namen merken. Aber schnell wird klar, dass das nicht so wichtig ist. Im Film gilt das Gesetz, dass, was man sich nicht merken kann, man sich auch nicht merken soll. Nicht, dass die Personen austauschbar wären. Aber man verpasst nichts, solange man noch nichts versteht. Es gibt nichts zu verstehen, außer der Tatsache, dass man die Lage erkennt. Und die ist schon mit der Eingangseinstellung gegeben.
Es geht um Minimierung der Realitätserfahrung bei einer Gruppe (die Adligen und Reichen), und sei es nur der Regen, der abgehalten wird, und um die Heroisierung im Alltäglichen bei der anderen, was erstaunliche Zumutungen einschließt, aber auch manches Zuckerstückchen. Das Land mit der frühesten Demokratiebekanntschaft ist auch das Land mit dem hartnäckigsten Distinktionsbedürfnis. Natürlich auch innerhalb der eigenen Gruppe, vor allem da. Hierarchien gibt es also nicht nur zwischen oben und unten, sondern auch zwischen den Snobs und zwischen den Dienern. Und es gibt Überläufer, wenn man zum Beispiel Schauspieler ist und Feldstudien betreibt. Der falsche Diener wird dann zwar nicht so hart bestraft wie der alte Seher Teiresias, der erste Pendler des Geschlechts, aber heiß ums Gemächt wird ihm schon. Wie in jedem Film gibt es Sympathieträger und das hässliche Gesicht. Dieses trägt Sir William, der zu einem Wochenende auf sein Schloss eingeladen hat. Er wäre Päderast, wenn er seine Vorliebe nicht zu einer für dekadente Pekinesen hochentwickelt hätte. Er hat eine Stufe der Genussfähigkeit erreicht, bei deren Gewahren Léon Bloy, dem Bürgerzerstörer, vermutlich die ätzende Feder stehen geblieben wäre, um sofort zur realen Kreuzigung dieser Gottesunebenbildlichkeit überzugehen. Daneben sieht man Lämmer Gottes, sexuell beklagenswerte Damen, den direkten Weg suchende Köchinnen, Erniedrigte, die sich selbst erhöhen, und noch vieles andere mehr, und dann eben auch diesen noch recht jungen Mann, der ziemlich cool ist (ein Diener eines Grafen), und diese nicht mehr ganz so junge Frau, eine der beiden Aufseherinnen der Dienerschar, die ein Geheimnis mit sich herumzutragen scheint. An die Begegnung dieser beiden erinnert man sich, wenn am Ende der Mordfall ganz ohne Zutun des tölpelhaften Kommissars sich einfach dadurch löst, dass eine Familiengeschichte erzählt wird, die auf unrühmliche Art mit dem Gastgeber zu tun hat, einem Don Juan der Fabriken, dem aber noch eine ältere mythologische Rolle zugedacht wird, er ist nämlich auch der Vater von Ödipus, der nun an den Ort seiner Bestimmung zurückgekehrt ist und das tut, was getan werden muss. Rache.
Die wunderbare Szene dieses Films ist natürlich die Begegnung zwischen Mutter und Sohn während ihres Kontrollgangs. Sie öffnet die Tür, sieht ihn auf dem Bett liegend, ein Buch in der Hand, rauchend, sie kehrt auf der einen Seite die strenge Aufseherin heraus, aber der Sohn, der davon nichts weiß, merkt, dass da noch etwas anderes ist, eine unterdrückte Schicht, die gerade in diesem Moment unhörbar laut gegen die perfekte Dienerin mobilisiert. Situationen wie diese, die auf der Oberfläche ganz ruhig vor sich gehen, haben das Zeug, wenn sie wie hier perfekt gespielt sind, umwerfend zu sein, gerade weil nichts passiert. Eine scheinbare Strenge, die auf eine scheinbare Sanftheit stößt, zusammenführen muss das der Betrachter, nachträglich, wenn es mal wieder soweit ist, bei ihm selbst, denn nur aufgrund von prinzipiellen Ungelöstheiten funktionieren Begegnungen wie diese als bezaubernde. Das ödipale Schema wird also beäugt, aber nicht erfüllt. Weder schläft Jokaste hier mit Ödipus, noch bringt Ödipus seinen Vater um, auch wenn er ihm ein Messer in den Bauch rammt. Der eigentliche Mörder dieses Films ist der Regisseur. In die ödipale Bresche sprang (wurde gezogen) Jean Renoir, Vater der „Spielregel“.
Dieter Wenk
<typohead type=2>Robert Altman, Gosford Park, USA/GB 2001</typohead>