24. Juli 2009

Höllenfahrt in Schwarz-Weiß

 

Kaum ein Mythos hat seine Faszination und düstere Anziehung bis heute so stark bewahrt wie der des englischen Frauenmörders „Jack the Ripper“. In Hunderten Büchern hat man versucht, dem Phantom auf die Spur zu kommen. Alan Moores Comic sortiert die zahlreichen Dokumente und ordnet sie zu einer modernen und packenden Geschichte an.

 

1888 erhält der Londoner Stadtteil Whitechapel grausame Berühmtheit, als ein anonymer Mörder in dem Bezirk vier Prostituierte auf bestialische Weise umbringt. Er lauert ihnen nachts an öffentlichen Plätzen auf, überfällt sie, schneidet ihnen die Kehle durch, verstümmelt ihren Unterleib und entnimmt den Leichen innere Organe. Ganz London gerät in Aufregung über die Barbarei des Gemetzels und die Kaltblütigkeit des Täters. Die polizeilichen Ermittlungen laufen jahrelang auf Hochtouren – ohne Erfolg. Der Mörder bleibt ein Phantom. Alle nennen ihn nur „Jack the Ripper“, ein Name, der in einem angeblichen Bekennerschreiben auftaucht und von der englischen Presse verbreitet wird.

Die Geschichte des Londoner Dirnenmörders hat seither eine einzigartige Eigendynamik entwickelt und ist inzwischen so sagenumwoben, dass sie schon selbst zur Legende geworden ist. Sie ist im Laufe der Zeit zu einer Mixtur aus historischen Fakten, Volksmärchen und Verschwörungstheorien geworden. Jahrelang erschien eine gewagte These nach der anderen, die wildesten Spekulationen um mögliche Täter und weitere Opfer wurden von Romanciers, Zeitungen und Historikern geführt, zahlreiche Personen haben sich in Memoiren selbst zu den Taten bekannt oder dichteten die Sage als Teil ihres Lebens weiter – und der Ripper tauchte zunehmend im Nebel der Spekulation unter.

Zahlreiche Historiker und Journalisten haben sich an einer abschließenden Aufklärung der Morde versucht, mit Allan Moore auch einer der renommiertesten und erfolgreichsten Comic-Autoren. Im einhundertsten Jubiläumsjahr der Mordserie begann er, sich mit dem Thema zu befassen, und bis 1998 arbeitete er an diesem Opus Magnum, zu dem Eddie Campbell die passende düstere Atmosphäre geschaffen hat. „From Hell“, lautet der Titel des Comic-Romans, auf dessen 600 Seiten (!) das eingespielte Team aus Autor und Zeichner die verschiedensten Ansatzpunkte der Ripper-Legende zu einer Geschichte verschmelzen. Das Resultat ist ebenso sehr ein Sachbuch wie Roman.

Moores Ripper-Geschichte orientiert sich an den Thesen des britischen Journalisten Stephen Knight, die er in seinem Buch „Jack the Ripper. The Final Solution“ aufgestellt hat. Darin beschreibt Knight die Ripper-Vorfälle als Teil einer royalistisch-freimaurerischen Verschwörung, in dessen Zentrum der königliche Leibart Sir William Gull steht. Dieser ist Knight zufolge auch der berühmt-berüchtigte Frauenmörder. Es spricht einiges dafür, dass es tatsächlich so sein kann. Schon kurz nach den Morden spekulierten die Ermittler angesichts der Verstümmelungen der Leichen, dass der Täter anatomische Kenntnisse haben muss.

Doch wer meint, mit „From Hell“ einfach nur eine gezeichnete Adaption der Knight-Thesen in der Hand zu halten, hat sich getäuscht. Mit dem Fleiß eines Bienenschwarms hat Moore die Historie der Ripper-Legende recherchiert, er fuhr an die Schauplätze der Morde und befasste sich ausgiebig mit der Kultur des 19. Jahrhunderts. All die Strömungen und Geisteshaltungen, technischen Entwicklungen und wissenschaftlichen Errungenschaften dieser Zeit fließen mit in sein Werk. Mit seiner Akribie und Detailverliebtheit hat er auch seinen Zeichner Campbell angesteckt. Bis auf den kleinsten Strich ist es Campbell gelungen, das viktorianische England vor dem Auge des Lesers entstehen zu lassen. Architektur, Mode, Geisteshaltungen, soziale Zustände – Campbell gelingt es, detailgetreu das Bild einer Zeit entstehen zu lassen. Moores zeitgemäße Sprache, die Gerlinde Althoff in respektabler Manier ins Deutsche übertragen hat, krönt das Ganze. Bei aller historischen Genauigkeit ist „From Hell“ dennoch ein hochmoderner Comic. Moore und Campbell präsentieren mit ihrer Version der Ripper-Ereignisse zugleich auch die Geburtstunde der Moderne.

Der Comic ist grundsätzlich mit einer regulierten 3x3-Aufteilung der Seite entworfen, so dass eine Comicseite im Normalfall mit neun Panels gestaltet ist. Moore und Campbell sind aber nicht umsonst als Meister ihres Fachs anerkannt. Sie besitzen das notwendige Feingefühl, die sequentielle Erzählung der Dramaturgie ihrer Geschichte im entscheidenden Maß unterzuordnen. Temporale und tiefendramaturgische Elemente bestimmen die Sequenz, nicht umgekehrt. So ändern sie in den passenden Momenten die Größe ihrer Bilderkästen oder erzählen panelübergreifend, um die Erzählung in der Sequenz zu spiegeln. Darüber hinaus harmonieren Bildaufbau und Sprechblasengrammatik perfekt, so dass der Leser angesichts der zahlreichen Erzählstränge, die die Masse an Ripper-Theorien aufgreifen und in einen Nebel aus Fakten und Fiktion binden, nicht noch mit der Entschlüsselung der Lesereihenfolge der Blasen befasst ist.

Das Werk enthält zahlreiche Höhepunkte und Genialitäten, die zu nennen Seiten füllen würde. Herausgehoben werden aber muss das vierte Kapitel, in dem Autor und Zeichner auf kongeniale Weise eine simple Stadtrundfahrt durch das viktorianische London mit einer historisch-philosophisch-mythologischen Umschreibung der Freimaurerideologie verbinden und damit zugleich die bevorstehende Triumphfahrt des Meuchelmörders durch die Geschichte vorbereiten. Hier entsteht nicht nur der rote Faden, der sich durch Moores Geschichte zieht, sondern auch die Orientierung gebende Landkarte, die der Leser in die Hand bekommt, um durch das wilde Terrain der Ripper-Mythologie zu gelangen.

Im Anschluss an seine Erzählung legt Moore auf 50 Seiten seine Quellen und Recherchen offen und entschlüsselt Fakten und Fiktion seiner Erzählung. Statt dabei aber zu entzaubern, führt er nur tiefer hinein in das historische Ripper-Labyrinth. Darüber hinaus bietet die gesammelte Ausgabe eine 23-seitige Rezeptions- und Detektivgeschichte in Comicform, die die einhundertjährige Suche nach der Person hinter Jack the Ripper wiedergibt.

„From Hell“ stellt zweifelsohne eine neue Generation der sequenziellen Erzählkunst dar, ist sozusagen Comic 2.0 – ein episches Jahrhundertwerk. Es verbindet großartige Zeichnungen und ein originelles sowie historisch tief fundiertes Storybord mit einer packenden Dramaturgie und bewahrt dabei die Qualitäten des wohl faktenreichsten Sachbuchs zur Legende um Jack the Ripper. Wer auch immer sich diesem Thema eines Tages einmal abschließend widmen möchte, er wird an diesem Werk vorbei müssen. Das ist schwer vorstellbar!

 

Thomas Hummitzsch

 

Alan Moore & Eddie Campbell: From Hell. Aus dem Englischen von Gerlinde Althoff. Verlag CrossCult. Asperg 2008. 600 S. 49,80 €. ISBN: 3936480532.

 

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