Dada-Trance, Transzendenz
Die Kunstfigur Torsten Kretchzmar
Vielleicht ist er die Diplomarbeit eines Kunststudenten. Dann hätte dieser Student, sofern er Professoren mit popkulturell geschulten Ohren und Augen hat, sicherlich Bestnoten bekommen, oder aber er hätte seine Professoren ebenso ratlos zurückgelassen wie Torsten Kretchzmar alle seine Hörer und Zuschauer. Zentrale Frage, die dieser Torsten hinterlässt ist - wie so oft im Pop: Wie meint er das alles?
Doch der Reihe nach. Torsten Kretchzmar ist eine Figur, die, so viel scheint sicher, nicht unbedingt gleichzusetzen ist mit der Person seines Darstellers. Er tritt als bebrillt sportlicher Nerd auf, dessen primäre Attitüde eine innere Ernsthaftigkeit zu sein scheint, die in keinem Verhältnis zu seiner Performance steht. Zentrales Werk im Schaffen des Kretchzmar ist dessen von ihm selbst als Hit bezeichnete Single „Entschlossenheit“, welche eine merkwürdige Trance-Technonummer ist, auf dessen Beat er relativ unrhythmisiert Wörter spricht, die allesamt auf die Silbe „heit“ oder „keit“ enden: „Entschlossenheit. Zuversichtlichkeit. Gelassenheit“ - und so weiter. Die Wörter sortieren sich in vier Strophen, deren Übertitelung den ganzen Heitkeitsalat ein wenig sortiert: Kretchzmar nennt die erste Strophe einführend, die zweite fröhlich („Chancengleichheit! Köstlichkeit! Süssigkeit“), die dritte dunkel („Hinterhältigkeit. Arbeitslosigkeit. Garstigkeit“) und die vierte erotisch („Fruchtbarkeit. Männlichkeit. Geilheit“). Das Video zu Entschlossenheit wirkt, als wäre es noch mit VHS gedreht, gleichzeitig ist es ein virales Gespenst der YouTube-Ära. Die Website von Kretchzmar (siehe Link unten) dreht sich im Wesentlichen um „Entschlossenheit“. So gibt es einen Remix namens „Dunkelheit“ mit animiertem Video, in dem das Brillengesicht wie ein Logo verwendet wird, und es gibt ein Live-Video von „Entschlossenheit“ als Spoken-Word-Performance: Ohne Musik, dafür mit Modern Dance und einem ratlos lachenden Publikum.
Mit einem anderem Video, „I know what girls like“, inszeniert sich Kretchzmar ein wenig wie dessen kunstfiguraler Zwillingsbruder Alexander Marcus und dessen Elektroschlager: Hier taucht die Figur in einem Café auf und begrüßt als eine Art Lichtgestalt von transzendenter Spiritualität alltägliche Cafégäste in Bad-Taste-Interieur. Anders als Marcus aber muss man Kretchzmar entweder höheren künstlerisch-ironischen Habitus oder aber unentschlosseneres musikalisches Handwerk attestieren: Seine Figur ist weniger greifbar, weil man doch zu oft den Eindruck bekommt, dies könne alles doch ernst gemeint sein. Falls dies tatsächlich der Fall ist, muss man sich fragen, unter welchem Wahn der verfehlten Selbsteinschätzung der Schöpfer dieser merkwürdigen Musik leidet, denn dann, wenn man ihm Ernsthaftigkeit unterstellte, überzöge sich das ganze Kretchzmar-Projekt mit einem Film der unfreiwilligen Komik, dessen Fremdschämpotenzial ins Unendliche stiege. So oszilliert dann auch die Rezeption von Kretchzmar in einem ständigen Wirrwarr von ironisierten oder ernsten Strängen, welche sich doch in der einen Frage treffen: Wer ist der Mensch hinter Kretchzmar?
Man weiß es nicht. Man weiß allerdings, dass hinter dem Ganzen tatsächlich eine gewisse Entschlossenheit steckt, die entweder aus verfehltem Glauben an die musikalisch-poetische Sprengkraft von Heit und Keit erwächst oder aber aus der Hartnäckigkeit im Kreieren eines viralen Kunsttopos im Internet.
Macht euch selber ein Bild auf:
David Gieselmann