24. Juni 2009

Dem Kaiser zu Ehren: Versuch einer Huldigung

 

Die Feierlichkeiten zu Füßen des Jahresregenten 2008 sind vorüber, die Preisgesänge verklungen. Vieles, alles womöglich, wurde gesagt über den Ersten und Einzigen, den „letzten Mohikaner“ nicht nur der Musikkritik.

 

Gleichwohl: Wenn man es recht bedenkt, muss nicht der physische Geburtstag, der achtzigste war es, als Kaisers Ehrentag gelten, vielmehr die Wiederkehr des Tages seiner Inthronisation. Sie ist vor fünfzig Jahren erfolgt: Seit 1959 ist Joachim amtierender Kaiser des Feuilletons deutscher Sprache. Durch die Süddeutsche Zeitung war Joachim, kaum dreißigjährig, geworden, was er geblieben ist, bis auf den heutigen Tag: Kaiser und Papst in einer Person.

 

Der Kaiser wird häufig, mit sanfter Ironie zuweilen, in durchaus paradoxer Personalunion, als „Kritiker-“ oder „Klavierpapst“ bezeichnet, als brauchte er sich des Umstands zu schämen, dass die besten Vermögen des ‚Bildungsbürgertums’ in ihm vereint und für die Zukunft bewahrt scheinen. Mag es im Felde der Literaturkritik manchen ‚Wettbewerber’ geben – wiewohl die Karaseks und Reich-Ranickis an sprachlichem Unterscheidungsvermögen, an Bildungswissen und selbst erfahrenem Künstlertum neben Kaiser nicht zu bestehen vermögen –, in der Musikkritik deutscher Sprache hat er seinesgleichen nicht. Wilhelm Sinkovicz (Presse), Peter Hagmann (Neue Zürcher Zeitung), Claus Spahn (Die Zeit) sind – bei allem wohlverdienten Respekt – keine eigentlichen Charismatiker, Sprachschöpfer eigenen Rechts, ‚Originalgenies’ und kaiserlichen Käuze.

 

Joachim Kaisers Rang bemisst sich nicht allein nach der Weite des Blicks und der Zuständigkeiten. Eines vor allem hebt ihn heraus: Kaisers Sprache. Kein anderer – diesseits der Hofmannsthal und Joseph Roth – vermag es wie Kaiser, klangliche Schwebungen im Duktus der Worte nachzubilden. Manches Komma gerät ihm aus- und eindrucksvoller als anderen die ganze Rezension. Hier gibt es die marktgängigen Floskeln nicht, die Klischees. Jeder Satz ist Kaisers eigen, durch Erfahrung und hohes Vermögen verbürgt, präziser zugleich und eingängiger als der Jargon der Zunft. Sacht rhythmisiert scheinen die Phrasen, verschachtelt zuweilen, gedrechselt mit Feinsinn und Feminität. Dies ist Kammermusik aus Gedanken. Holprig, fahrig geraten sie nie.

 

An bildlicher Vorstellungskraft kommt Kaiser kaum einer gleich: Seine tastende, zögernde Kunst der Metapher macht Unerhörtes immerhin sichtbar. Eine besondere Bewandtnis hat es mit Kaisers Komposita. Woher die Vorliebe für Wörter mit Bindestrich rührt, das liegt im Dunkeln. Eines haben sie sämtlich gemein: Komplexität, rhythmisch wie in der Bedeutung. Kaiser verfügt über jene Gelassenheit, die es gestattet, Dinge offen, in der Schwebe, zu lassen. Grobheit, Einfalt, gerader Sinn – sie sind ihm wesensfremd, wie jedem eigentlichen Aristokraten.

 

Mag es zutreffen, dass Kaisers Prosa ungünstigstenfalls privatsprachliche Züge aufweist – der austauschbaren Gemeinplatz- und Phrasenverwertung so vieler anderen der schreibenden Zunft ist er weit überlegen. Auch geharnischte Popapologeten, all jene, denen des Kaisers Bildungswelt fremd bleibt wie Mozart oder der Nordpol, könnten viel von ihm lernen. („Könnten“ muss es heißen, denn pubertärer Übermut, kindliche Hybris steht dem Wunsch zu lernen, allzu oft entgegen.) „Kein Kaiser hat dem Herzen vorzuschreiben“, sagt Schiller. Kein Kaiser wird die Jünger Björks zu Beethoven bekehren. Bei diesem Kaiser allerdings könnte die Popkultur lernen, mit Sprache verantwortlich und mit Werken der Kunst ohne Frivolität zu verfahren. Es gibt ein Jenseits der Ironie – verantwortetes, kitschfreies Pathos. Dies vielleicht ist die kostbarste Einsicht, die wir von Kaiser beziehen.

 

Joachim Kaiser ist kein Mann des ‚Entweder-Oder’, protestantisch strenger Geradlinigkeit (dies trotz seiner ‚preußischen’ Herkunft). Verrisse sind unter seinem Niveau. Das hindert ihn nicht, Kritikwürdiges deutlich genug zu bezeichnen. Van Cliburns Scheitern in Europa ist nicht zuletzt Kaisers Interventionen geschuldet. Legendär ist die Münchner Fehde mit Sergiu Celibidache: Beide beanspruchen, gleichsam ‚naturgemäß’, die Deutungshoheit übers musikalische Geschehen. Allein, sie denken, empfinden verschieden. Für Celibidache, den Mathematiker und Phänomenologen, beginnt Musik jenseits des Klangs, als Vorschein der Weltenharmonie. Für Kaiser, einen Mann des Wortes, ist Musik eine ‚irdische’ Sache, ‚geformt’ zwar, Kunstprinzipien unterworfen, im Letzten aber Ausdruck des Humanum. Daher rührt seine Verehrung für Bernstein. (Dessen Wiener Fidelio bezeichnet er als stärksten musikalischen Eindruck.) Die Wertschätzung für Karajans Altersstil muss dagegen befremden. Mit ‚Ausdruck’, Kaisers Zentralbegriff, hat Karajans tönender Schönheitsnarzissmus wenig zu tun. In solcher Inkonsequenz einen Mangel erkennen zu wollen, wäre dennoch Bigotterie: Joachim ist Kaiser, nicht Gott, ein „Mensch mit seinem Widerspruch“.

 

Kaisers Urteil darf man trotz alledem trauen. Dies nicht allein wegen der Weite seines Bildungswissens. Nicht, weil er tätiger Musiker ist. Sein größter Trumpf ist das Alter. Er hat sie gehört, die Großen, die Alten: Furtwängler, Bruno Walter, Artur Rubinstein und ihresgleichen. Auch darin ist er ein Letzter und darum ein Erster. Der Kaiser und Papst nennt ‚überzeitliche’ Maßstäbe sein eigen.

 

Kaisers Unverständnis gegen alle Popkultur, diskret, doch unverhohlen geäußert, wird von dieser mit ebensolcher Herzlichkeit erwidert. Der „letzte Mohikaner“ europäischen Bildungsbürgertums verkörpert nicht wenig von dem, was der digitalen Bohème befremdlich, bizarr, wenn nicht verabscheuungswürdig, erscheint. Aber –: Reibung schafft Wärme, und manchmal kann sie Funken schlagen. So findet sich die scharfsinnigste, spitzzüngigste Huldigung an den Kaiser und Papst im popaffin-dauerironischen Online-Feuilleton Der Umblätterer:

 

http://www.umblaetterer.de/2007/05/19/der-saetze-kaiser-teil-1/

 

Man parodiert Joachim Kaisers sprachlichen Gestus. Eben dies ist das schönste Kompliment, das sich ausdenken lässt, denn, so der Kaiser, nur „wer Stil hat, ist parodierbar“.

 

Daniel Krause