22. Juni 2009

Gefrorene Augenblicke

 

Dem Buch eilte ein legendärer Ruf voraus. Noch bevor William S. Burroughs' „Naked Lunch“ veröffentlicht wurde, prophezeite Allen Ginsberg, dass dieser „endlose Roman“ jeden in den Wahnsinn treiben werde. 1958 freute sich Norman Podhoretz, der spätere Lautsprecher des amerikanischen Neokonservatismus, noch, dass „Naked Lunch“ keinen Verlag gefunden hatte, so dass der Verstand eines jeden Lesers von diesem Angriff verschont blieb. Ein Jahr später jedoch ermöglichte es der Pariser Verlag Olympia Press, dass dieses Werk Zugriff auf den Verstand des Abendlandes erhielt. Für neokonservative Publizisten wie Daniel Bell hielt mit Burroughs die Apokalypse Einzug in die zeitgenössische Literatur. „Bei Burroughs wird die exkrementale Vision greifbar“, schrieb er in einer globalen Denunziation der „neuen Sensibilität“ der 1960er Jahre, die er in der Kloake der Geschichte verschwinden sah.

 

Fünfzig Jahre nach dem erstmaligen Erscheinen auf dem literarischen Markt ist weder die Kultur in Exkrementen verendet noch büßten die Leser nach der Lektüre von „Naked Lunch“ ihren Verstand ein. Vielmehr gilt das Buch längst als Klassiker der modernen amerikanischen Kultur. Anlässlich des fünfzigsten Jahrestages der Erstveröffentlichung zelebriert nun die Burroughs-Community im Sommer und Herbst 2009 auf Veranstaltungen in Paris, Lawrence (wo Burroughs seine letzten Lebensjahre verbrachte) und New York mit Gesprächsrunden, Vorträgen, akademischen Erörterungen, Filmvorführungen und musikalischen Darbietungen sowie mit einer Anthologie namens „Naked Lunch @ 50“ mit „Jubiläumsessays“ nachgeborener „Burroughsologen“ und Weggefährten wie Jürgen Ploog ein Buch, das  der Rezensent des „Times Literary Supplement“ einst mit den Worten „Glug, glug, it tastes disgusting“ beschrieb. Hinter dieser Zelebrationsmaschine marschiert auch der Verlag Nagel & Kimche her, der mit achtjähriger Verspätung die deutsche Übersetzung der von James Grauerholz und Barry Miles herausgegebenen „restaurierten“ Version von „Naked Lunch“ herausgibt. Lauthals tönt das Verlagsmarketing, mit dieser Ausgabe liege das Buch erstmals in seiner „ursprünglichen“, „vollständigen“, „um alle unterdrückten Passagen“ ergänzten Fassung vor, während realiter die Herausgeber dieser Ausgabe die orthografischen Fehler der Edition von 1959 korrigierten, einige Briefe sowie als „Outtakes“ bezeichnete Textvarianten des originalen Typoskripts, das in den Archiven der Ohio State University aufgefunden wurde, hinzufügten und in einem Nachwort die verschlungene und verworrene Publikationsgeschichte des Buches nachzeichnen. So handelt es sich bei dieser Ausgabe nicht um die „ursprüngliche Fassung“, wie der Verlag behauptet, sondern um eine „korrigierte“, „ergänzte“ Fassung, die den von Burroughs zu seinen Lebzeiten autorisierten Text mehr oder weniger unberührt lässt. Die Legende von „unterdrückten Passagen“ existiert nur in den Fantasien einer um sich selbst kreisenden, von geschichtlicher Faktizität unberührten Marketing-Kamarilla, die nicht einmal fähig zu sein scheint, den zu vermarktenden Text überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, geschweige denn die Entstehungsgeschichte des Buches in seinem Kontext intellektuell erfassen zu können.

 

In diese Zurichtung von Literatur in der verzerrten Perspektive eines „Know-Nothing-Marketings“ passt es auch, dass der Verlag auf seiner Internet-Seite „Naked Lunch“ zum „Klassiker der Beat-Generation“ erklärt, ungeachtet dessen, dass sich Burroughs – trotz seiner engen Freundschaft mit Allen Ginsberg und Jack Kerouac (auf den der Titel des Buches zurückgeht) – Zeit seines Lebens kulturell und stilistisch von der Beat Generation distanzierte. Im nächsten Atemzug aber schon wird das Buch marktschreierisch zur „Bibel der Gegenkultur Amerikas“ angepriesen, als ließe sich die „Gegenkultur Amerikas“ auf die Beatniks reduzieren. „Naked Lunch“ vereinigt eine Ästhetik des Obszönen mit einer Kritik der Massenkultur, steht mit seiner Verwebung von „höherer“ und „niederer“ Kultur in der Tradition des Modernismus, bereitete aber zugleich den Boden für eine Popliteratur, die freilich Montage mit Beliebigkeit verwechselte.

 

Im Gegensatz zu Jack Kerouacs Beat-Romanen „On the Road“ oder „The Subterraneans“ (der in Deutschland von Rowohlt unter dem reißerischen Titel „Bebop, Bars und weißes Pulver“ vertrieben wurde) war „Naked Lunch“ kein Ausdruck der damaligen Subkultur, sondern rekurrierte auf die Massenkultur der 1920er, 1930er und 1940er Jahre, die er in einer situationistischen „Ent-Wendung“ in eine radikale Kritik verkehrt. Neben Versatzstücken aus Science & Pulp Fiction, Groschenromanen, Verschwörungstheorien und Pornografie benutzt er für seine geschichtsentrückte Jahrmarktwelt der immergleichen Abhängigkeit und Herrschaft (für die er die Metapher „Junk“ einführte) einen Soundtrack der Vergangenheit. Trotz der kurzen Anspielungen auf Bebop und Rock and Roll (der gewalttätiger Exzesse umgibt) huldigt „Naked Lunch“ (wie Ian MacFadyen anmerkte) den „Radio days“ der Großen Depression und den Vaudeville-Theatern. Durch das Buch wabern Musikfetzen von Benny Goodman, Duke Ellington, Hoagy Carmichael, Fletcher Henderson und Judy Garland, mit denen Burroughs auf die verlorene Zeit seiner Kindheit in St. Louis anspielt. Diese Nostalgie als Kritik des in „Junk“ versunkenen Ödlands taucht in „Naked Lunch“ sporadisch, flackernd, abgerissen auf, verstärkt sich aber in späteren Werken (wie in der von Carl Weissner herausgegebenen Textsammlung „Die alten Filme“) zunehmend.

 

Doch ist Burroughs keineswegs ein unkritischer Apologet der amerikanischen Massenkultur, wie sie sich in ihrer industriellen Ausformung seit dem Bürgerkrieg herausbildete. „... in Schlagern und Schundfilmen überträgt sich die tiefgreifende Verderbtheit Amerikas“, erklärt Burroughs' Figur Doktor Benway (die zuweilen als Sprachrohr des Autors agiert) in der Übersetzung Michael Kellners, die der Kritik allerdings einen wertenden Zungenschlag gibt, der im Original nicht vorhanden ist. In Burroughs' Text ist lediglich von „popular songs and Grade B movies“ die Rede. In unmittelbarem Zusammenhang mit dem ambivalenten Verhältnis zur amerikanischen Massenkultur steht Burroughs' Kritik an der amerikanischen Demokratie, die für ihn zu einem bürokratischen Tumor „entartet“ ist.  Als Gegenmittel entwirft Burroughs einen kooperativen Lebensstil jenseits der etatistischen Herrschaft. In „Naked Lunch“ bleibt die Utopie noch verschwommen, nimmt aber in späteren Werken – etwa in „Cities of the Red Night“ oder „The Place of Dead Roads“ – eine Form von männlichen, aus der Geschichte herausgesprengten Kommunen an, die auf einen libertären Individualismus jenseits staatlicher Kontrolle rekurrieren. Letztlich ist es eine Zuflucht in die Fantasie vorkapitalistischer Organisationen, die sich dem Zugriff autoritärer Herrschaft zu entziehen versuchen. In „Naked Lunch“ habe er eine Krankheit diagnostiziert, sagte Burroughs. Der „nackte Lunch“ bezeichnete den gefrorenen Augenblick der Erkenntnis nach dem Erwachen aus dem Grauen. Danach habe er Gegenmittel vorgeschlagen. Die „Lösungen“ erwiesen sich jedoch als rückwärts gewandte, männlich bestimmte, misogyne Fantasien. Wie so oft in der Geschichte war die Kritik der herrschenden Zustände überzeugender als der Entwurf ihrer Überwindung.


Jörg Auberg

 

William S. Burroughs: Naked Lunch. Die ursprüngliche Fassung (Naked Lunch. The Restored Text, 2001). Herausgegeben von James Grauerholz und Barry Miles. Übersetzt von Michael Kellner. Zürich: Nagel & Kimche, 2009. 378 Seiten. 24,90 Euro.

 

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