2. November 2003

Lecters erster Auftritt

 

Die Familie ist zu dritt und in ihr steckt alles, was es braucht. Das Kind hört spannende Geschichten vom Vater, der einem spannenden Job nachgeht (Detektiv), was die Frau bestimmt auch ganz toll findet. Meistens. Auch von außen betrachtet gibt die Zelle einiges her. Sei’s als Objekt der Bewunderung, sei’s als Grund zum Schimpfen. In Extremsituationen wie hier löst sich die Familie zeitweilig auf. Dann ist kein Platz mehr für sie. Schluss mit den fein oder grob sortierten Funktionen, eine nimmt Überhand und droht, alle anderen mit sich anzustecken und zu verschlingen. Das geschieht nicht in böser Absicht, aber spielt man so mit dem Schicksal?

Gesegnet die Berufe, die einem noch Leidenschaft abfordern. Die erst dann richtig Spaß machen, wenn Dienst nach Plan nicht mehr gilt. Deshalb lieben wir den Detektiv, auch wenn er nicht zurückliebt. Wenn er ganz bei sich ist, ist er unansprechbar, kein Sohneswort dringt an sein Ohr, die Frauensehnsucht schiebt er auf. Er ist dabei, auf die andere Seite zu wechseln, und diese mimetische Inkantation duldet keine familiäre Dreieinigkeit. Der Mann muss sich isolieren, bald sind nur noch Polizisten um ihn – und andere Irre. Der Fall ist auch schrecklich, ganze Familien werden hingerichtet, im Zentrum des Debakels stehen immer schöne Frauen, um die sich das Monster besonders bemüht. Will Graham ist kein Anfänger, er ist eher ein Opfer seiner eigenen Energie, mit der er sich dem Täter anverwandelt. Aber nur so sind Begegnungen möglich, auch wenn die in diesem Film vorgeführten psychologisierenden Annäherungen nichts von der Sonderklasse verraten, die vielleicht tatsächlich nötig wären, um was zu verstehen. Denn am Ende des Films drängt die Filmzeit, und nicht weiter nachvollziehbare Schlüsse geben den Weg frei zum Täter. Dazwischen muss man schon ein bisschen die Mimiken des Überwältigtseins bemühen, um dem Zuschauer zu verstehen zu geben, dass der Agent gerade ein anstrengendes Gespräch hinter sich gebracht hat. Davon kam leider nichts rüber, als Bill mit Hannibal Lecter konversierte.

Man kann Jonathan Demme gut verstehen, dass er hier ansetzte, um etwas mehr Plausibilität ins Spiel zu bringen. Es geht bei Mann alles zu schnell. Die Zelle ist zu klein. Da kann sich keine Atmosphäre aufbauen. Lecter wird nicht angemessen vorgestellt. Und alle Subtilitäten haben nur die Funktion, zu zeigen, wie klug unser Agent ist. Dass er tatsächlich in der Lage ist, die Grenze in seinen theatralisierten Monologen zu überwinden. Er muss alles alleine mit sich ausmachen. Niemand hilft ihm (bis auf die paar Laborergebnisse). Dabei wäre es interessanter gewesen, die Kette der Normalität auf dem Weg in den Irrsinn und wieder zurück zum sich schließenden Kreis mit paralleler Kettenfraktur des Monsters in einer ausführlicheren Interaktion zu bewundern. Aber letztlich bleibt hier jeder für sich. Weniger Fakten hätte man haben wollen, mehr Beziehung mit dem beziehungsverweigernden Teil. Das Monster, nicht Lecter, von dem man nicht erfährt, wie er wurde, was er ist, wird, je mehr man von ihm weiß, nachträglich eingeschlossen in den großen Kreis der Familie, als Opfer einer frühkindlichen Ausschließung; nur noch im ambivalenten Mitgefühl allerdings, das keine Chance hat, vom anderen, dem Monster, empfangen werden zu können. Es gibt keine Therapie für das initiale Desaster. Hier hilft nur Schadensbegrenzung. Blindes Vertrauen ist tödlich, die Kurzschließung des Grauens auf der anderen Seite unvermeidlich. Das Fatale dabei, keine Familie weiß, wen es sich da heranzüchtet, wenn es bereits zu spät ist, kann nur noch vernichtet werden, auf die Gefahr hin, dass der Vernichter selbst vernichtet wird. Der Film zeigt heldenhaft, dass die amerikanische Familie für diese Belastungsprobe gerüstet ist. Der Agent ist gezeichnet, aber in der Familie, die ihre Arme jetzt wieder öffnet, ist Heilung. Das amerikanische Programm ist sehr anspruchsvoll.

 

Dieter Wenk

 

<typohead type=2>Michael Mann, Blutmond, USA 1986</typohead>