Die größte Schau der Welt
Kommen Sie heran, meine Damen und Herren, treten Sie näher, fühlen Sie, schnuppern Sie, staunen Sie. Ja, auch Sie, meine Dame. Welch ein bezauberndes Lachen. Das wird noch lange in meinem Ohr nachklingen. Ich werde davon träumen. Da müssen Sie doch nicht erröten. Nehmen Sie Ihre Freundin an der Hand und betreten Sie unsere sagenhafte und exklusive Welt der mythisch-mystischen Kuriositäten. Erleben Sie unter der Leitung unseres legendären Direktors Alejandro Jodorowsky eine Welt des Gesangs, des Tanzes, eine Welt voller Glauben und Götter, voller Mord und Totschlag, voller Schuld und Sühne. Eine Welt wie die Ihre. Nur, Sie erlauben mir, mit den Fingern zu spielen und Daumen und Zeigefinger sich fast berühren zu lassen, haben wir Sie ein wenig dramatisiert, inszeniert, wie soll ich sagen … Wir haben sie poetisch auf den Punkt gebracht. Sie sehen am Blecken meiner Zähne: Ich bin zufrieden mit mir.
Ja, auch diese beiden dort. Welch ein hübsches Paar. Treten Sie ein. Das bisschen Geld lohnt sich. Vertrauen Sie einem alten Clown. Allerdings muss ich zugeben: meine rote Nase, die kommt natürlich vom Saufen. Ach, diese einsamen und kalten Nächte.
Aber, haben Sie mein Klatschen gehört? Nun nichts mehr von mir. Die alten Geschichten nerven ja auf Dauer. Und wir wollen Sie nicht nerven. Wir wollen Sie verzaubern.
Ah, das werte Paar hat es sich überlegt. Sehr schön. Sie werden es nicht bereuen. Ja, auch wir werden Ihnen heute Abend eine Liebesgeschichte erzählen. Alle guten Geschichten sind Liebesgeschichten. Oder?
Wir werden Ihnen die Geschichte von Fenix erzählen. Eine traurige Geschichte. Alle guten Geschichten sind traurige Geschichten. Nicht wahr? Fenix ist ein schüchterner und zurückhaltender Junge. Er wächst wie die meisten Jungen in seinem Alter bei einem Wanderzirkus auf. Ein Zirkus ganz so wie der unsere. Ist das nicht ein Zufall? Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Fenix hat natürlich auch Eltern. Auch das macht ihn den meisten Kindern in seinem Alter ähnlich. Und ebenso wie die meisten anderen Kinder hat er einen grobschlächtigen, versoffenen, tätowierten Vater namens Orgo. Ach, er ist so ein herrlicher Vater, dieser Orgo. Er wirft mit Messern wie andere mit Witzen um sich, wird gar in Amerika, so erzählt man sich, wegen Mordes gesucht. Was für ein Ausbund an Väterlichkeit.
Dann ist da natürlich auch noch Fenix Mutter, eine Trapezartistin, die sich an den eigenen Haaren aus ihrem Lebenssumpf ziehen lässt. Eine merkwürdige Frau, so muss ich Ihnen leider berichten. Das Religiöse hat sie übermannt. Sie steht der Kirche des „Heiligen Blutes“ vor. Diese Kirche wurde zur Erinnerung an ein armes Ding errichtet, das eben an jener Stelle von zwei brutalen Vergewaltigern niedergerissen und geschändet wurde. Aber diese Untat genügte ihnen nicht. Sie schnitten der Armen auch noch die Arme ab. Das nennt man Doppelarm dran. Aber weil die Kirche öffentlichen Bauvorhaben im Wege steht, reißt man sie einfach ab. Das Ganze natürlich mit dem Segen der katholischen Kirche. Wir sind ja hier nicht unter die Barbaren gefallen.
Nun will es die Tragik dieser Geschichte, dass Orgo sich mit dem triebhaften Teil seines eventuell vorhandenen Hirns in eine Kollegin, die ihn in Sachen Tätowierungssucht um Längen schlägt, verliebt. Wir sollten das Wort Liebe hier vielleicht lieber unterlassen. Sagen wir eher: Er begehrt sie.
Das war keine gute Idee, die dem lieben Orgo da in die Lenden fuhr. Seine Frau, dies strebsam gläubige Wesen, findet das Techtelmechtel nämlich gar nicht gut. Wie löst man ein solches Stelldichein auf. Eben. Sie haben es natürlich sofort erraten. Mit Säure. Mit was sonst. Gesagt, getan.
Ach, was windet er sich, unser herzensguter Orgo. Die Genitalien brennen wie Feuer, zumindest die Reste von dem, was man als Genital hätte bezeichnen können. Und weil Orgo ein nachtragender Mensch ist, schnappte er sich seine Messer und macht seine Frau zur Heiligen. Schipp, schnapp. Da sind die Arme schon ab. So schnell kann man Karriere machen. Und weil er gerade so fleißig beim Schneiden ist, fährt er sich mit der Klinge auch noch rasch über den Hals. So entsorgt man sich selbst. Was für ein trauriger Tag. Aber das Schlimmste daran ist: Der kleine Fenix hat alles gesehen. Das nennt man mal ein echtes Trauma.
Oh, ich sehe schon, mein Herr, Sie hören mir besonders aufmerksam zu. Das ist gut so. Sie sollten unbedingt unsere Vorstellung besuchen. Sie sehen wie ein Arzt aus. So, Sie sind Arzt. Nur so eine Art Arzt? Psychiater! Aha. Besser als gar nichts. Aber gerade Sie sollten mir jetzt genau zuhören. Denn der arme Fenix verkraftet das gesehene Geschehen natürlich nicht. Er landet in einem Irrenhaus. Sie mögen den Ausdruck nicht, Herr Doktor. Doch, glauben Sie mir, es ist ein Irrenhaus.
Dort hockt dann also unser Fenix einem Affen gleich auf einem Baum. Bis zu jenem Tag, da ihn die Stimme seiner Mutter erlöst. Fenix bricht aus, folgt seiner Mutter, um ihr fortan die Arme zu ersetzen. So ziehen sie also durch die Lande, vereint als ein Wesen, ein Künstlerpaar auf einer mörderischen Tour, giert die Mutter doch nach Rache.
Seht meine gefalteten Hände. Glaubt mir, wenn ich euch sage: Fenix ist nur Opfer, ist seiner Mutter völlig ausgeliefert. Sie regiert über ihn, führt ihn wie eine Marionette.
Was, frage ich, was ist die einzige Kraft des Universums, die in der Lage ist, ihn aus dieser Haft zu befreien. Ja, dort hinten, die jungen Damen schreien es doch, hört ihnen zu. Es ist …
Es ist …
… die Liebe!
Meine Herren Musikanten. Bitte spielen Sie auf. Wiegen wir uns alle im Takt dieser süßen Klänge. Die Liebe, die Liebe.
So! Nun aber genug. Zu viel Liebe verkleistert einem ja die Gehörgänge. Bitte alle einmal kräftig schütteln. Geht es Ihnen besser? Bravo. Sie sind mir schon ein braves Publikum. Ein solches Publikum kann man sich nur wünschen.
Kommen Sie heran, treten Sie ein. Die Vorstellung wird in wenigen Momenten beginnen. Unser heutiges Stück, ich erzählte Ihnen ja daraus, hat mächtige Paten. Dort kommen sie ja. Bitte machen Sie doch Platz. Bitte lassen Sie unsere Paten durch. Von jedem dieser Paten haben wir einen Erzählstrang bekommen, um so die heutige Geschichte knoten zu können. Das Seil ist nun fest und stark. Es wird uns alle tragen.
Pssst! Nun sind sie drin. Haben Sie unsere Paten erkannt? Der Dicke, das war Alfred Hitchcock. Sieht aus wie ein Getränkeautomat. Aber lassen Sie sich davon nicht täuschen. Hinter ihm kam der eulenartige Fellini. Dem folgte Poe. Sieht immer aus wie ein trauriger Uhrmacher, dieser Poe. Mit dem wird es noch ein böses Ende nehmen.
Nun haben Sie aber wirklich die allerletzte Chance, noch in die Vorstellung zu kommen. Wie? Was? Sie sind immer noch nicht überzeugt. Was soll man da nur machen …?
Eine Geschichte kann ich Ihnen noch erzählen. Wir werden einen Elefanten beerdigen. Na, das ist doch mal was. Wir werden das Vieh in einen überdimensionalen Sarg stopfen und den Hungrigen zum Fraß vorwerfen. Auch das kommt in unserer Geschichte vor. Begräbnisse ziehen doch immer. Lassen Sie mich jetzt nicht so hängen. Sie wollen doch keinen traurigen Clown sehen.
So ist es richtig. Der Eintritt kostet Ihren Verstand. Sie haben keinen? Gehen Sie, gehen Sie. Ich habe heute meinen guten Tag. Sie würden die größte Schau der Welt verpassen. Das wollen Sie doch sicher nicht. Geben Sie mir Ihren Hut. Ich halte ihn.
Meine Damen, meine Herren, ich darf mich nun verabschieden. Meine Aufgabe ist erledigt. Und wie es sich für jede anständige Halluzination gehört, löse ich mich nun wieder in Luft auf und sage nur: Bis zum nächsten Mal in diesem Circus.
Guido Rohm
Titel: Santa Sangre
• Darsteller: Axel Jodorowsky, Sabrina Dennison, Guy Stockwell
• Regisseur: Alejandro Jodorowsky
• Komponist: Simon Boswell
• Format: Dolby, HiFi Sound, PAL, Special Edition
• Sprache: Deutsch (Dolby Digital 2.0), Englisch (Dolby Digital 2.0), Englisch (Dolby Digital 5.1)
• Untertitel: Deutsch, Englisch
• Region: Region 2
• Bildseitenformat: 16:9
• Anzahl Disks: 2
• Studio: Ufa/DVD
• DVD-Erscheinungstermin: 22. Januar 2007
• Produktionsjahr: 1989
• Spieldauer: 118 Minuten
• DVD Features:
• Dokumentation "La Constellation Jodorowsky"
• Audiokommentar
• Deleted Scenes mit Kommentar
• Interview
• Kurzfilm "Echek" von Adan Jodorowsky
• Booklet mit Essay zum Film