Interview mit Shi Ming
Das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Frieden, der in China Tiananmen heißt, erlebt Shi Ming am 3. Juni 1989 am Fernsehen im deutschen Exil. In seiner beeindruckenden Dokumentation „Tiananmen“, die arte am 2. Juni um 23.05 ausstrahlt und am 3. Juni um 23.30 in der ARD wiederholt wird, hat Shi Ming Zeitzeugen befragt und Originalaufnahmen von den Protesten und deren blutiger Niederschlagung montiert. Shi Ming wird 1957 in Peking geboren. Anfang der achtziger Jahren studiert er in der chinesischen Hauptstadt Germanistik und Jura und ist Sprecher und Autor beim staatlichen Rundfunk. 1987 arbeitet er als Rechtsberater für eine chinesische Organisation in Deutschland und beschließt, nicht in seine Heimat zurückzukehren. Seitdem arbeitet er als Schriftsteller und Journalist, Shi Ming lebt in Köln.
Wie haben Sie die Protagonisten Ihres Films gefunden?
Die größte Schwierigkeit bestand nicht darin, die Protagonisten zu finden. Die sind zum Teil als Blogger im Internet aktiv und nehmen immer wieder politisch Stellung. Die größte Schwierigkeit war vielmehr, sie zum Sprechen zu bringen. Alle fünf Protagonisten sind auf ihre Art traumatisiert. Dass sie sich für diesen Film geöffnet haben und detailliert von ihren Erlebnissen erzählen, das erscheint mir immer noch wie ein kleines Wunder.
Spielt die Angst vor Verfolgung noch eine Rolle?
Angst nicht in dem Sinne, dass sie nochmals von chinesischen Autoritäten angegangen würden. Drei von den vier Protagonisten leben im Ausland. An die Stelle der Angst ist mittlerweile Trotz getreten, und der Wunsch, dem Glamour und der Glitzerwelt des boomenden Chinas etwas anderes entgegen zu setzen. Nach dem Motto: So strahlend ist das alles nicht in China, wenn man eben genau hinschaut.
Die Personen, die Sie vorstellen, haben die Ereignisse vom Juni 1989 hautnah erlebt. Bis auf einen, den Gewerkschafter Han Dongfang, sind sie in der Öffentlichkeit bislang kaum in Erscheinung getreten. War es Ihnen ein Anliegen, weitgehend Unbekannte vorzustellen?
Wenn über das Massaker berichtet wurde, dann meist über die führenden Köpfe oder überschätzte Politiker. Ich nenne dies immer einen makro-historischen Diskurs, der sich der Großwetterlage widmet. Dadurch wird wenig hinter die Kulissen geguckt. Und hier ist die Oral-History-Bewegung wichtig, die in China bereits seit einigen Jahren existiert und auch das kollektive Trauma behandelt, das sich mit dem 3. Juni 1989 verbindet. Ich fühle mich sehr angeregt von dieser Bewegung und wollte mit diesem Film auch unbedingt 20 Jahre nach dem Massaker die Opfer reden lassen. Und die ganz normalen Chinesen zeigen, die gar nicht unbedingt mit den ganz großen Motiven dabei waren, sondern zum Teil einfach nur aus Neugier. Da gibt es zum Beispiel diesen damals 18-jährigen Studenten, der zunächst dachte, er wäre Teil eines Frühlingsausflugs der Universität, als er sich den Protesten anschloss.
In Ihrem Film betonen Sie, dass es heute in China immer mehr Menschen gibt, die ihre Erinnerung an den 3. Juni öffentlich machen. Kann man darin also einen Hoffnungsschimmer sehen?
Gerade erscheint eine ganze Welle von Memoiren, von Menschen verfasst, die damals unter die Räder gekommen sind. Es muss nicht alles stimmen, was da geschrieben wird. Aber die Zensurbehörden kommen gar nicht mehr nach, all diese Memoiren zu lesen und zu überprüfen. Es entwickelt sich allmählich so ein Massenrecht auf Erinnerung. Wir wissen dabei noch überhaupt nicht, wohin diese Bewegung führt. Aber dass diese Bewegung unübersehbar ist und ein faktisches Recht erzwingt, ist eine begrüßenswerte Tatsache. Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang auch die Mütter von Tinanmen, die darauf bestehen, öffentlich Trauerfeiern veranstalten zu dürfen. Sie finden damit auch sofort Resonanz in der Bevölkerung. Das ist alles insgesamt schon sehr hoffnungsvoll.
Was denken Sie, wer oder was hat dazu geführt, dass die Demonstranten niedergeschossen wurden?
Dazu müsste man zunächst die Indizien betrachten. Zentral ist die Frage, ob es überhaupt einen Schießbefehl gegeben hat. Die Opfer fordern zurecht, Klarheit über diese Frage zu Antwort zu erlangen: Wer hat einen Schießbefehl gegeben und wie hat dieser Schießbefehl ausgesehen? Wir wissen bis heute nicht, ob es einen Schießbefehl gegeben hat, sondern wir wissen nur, dass geschossen wurde. Durch Bilder und Berichte ist belegt, dass die Truppenteile auf dem Tiananmen-Platz an verschiedenen Orten in der Stadt und zu verschiedenen Tages- oder Nachtzeiten unterschiedlich ausgerüstet waren. Einige Soldaten hatten Holzstangen in den Händen, andere trugen Stangen und dazu Kalaschnikows über der Schulter. Und wieder andere waren mit Kalaschnikows bewaffnet. Und dies ist ein deutliches Indiz dafür, dass es wahrscheinlich gar nicht einen einzigen Schießbefehl gegeben hat. Es hat wohl vielmehr eine Vielfalt von Befehlen, auch Schießbefehle, gegeben, anders ist der unterschiedliche Ausrüstungsgrad der Truppenteile auch nicht zu erklären. Abschließend muss ich sagen, dass wir immer noch sehr wenig über die Zusammenhänge wissen, die zu dem Massaker am 3. Juni 1989 führten.
Das Interview führte Lasse Ole Hempel.