29. Mai 2009

Torso und Imperativ

 

Plötzlich ist da diese andere Ansprache: in Rainer Maria Rilkes Sonett „Archäischer Torso Apolls“ der Imperativ der letzten Zeile, der Peter Sloterdijks Buch den Titel gegeben hat. In „Du mußt dein Leben ändern“ sind es die letzten 20 Seiten, die das bloß Beschreibende, Erklärende, Interpretierende, manchmal auch polemisch ad acta Legende hinter sich lassen und den Leser am Schlafittchen packen, um ihn, wenn sie ihn schon nicht umpolen können, doch vor eine ganz klare Gefahrenlage stellen, aus der es kein Entkommen durch bloßes Buchzuschlagen gäbe.

 

Ob Sloterdijk sich nun bewusst an diesem Rilke’schen shift orientiert hat oder nicht, irgendetwas musste in diesem dicken Buch noch kommen, eine Lösung oder zumindest ein Versuch dazu. Denn wozu sollten wir Hunderte von Seiten über das Üben in den verschiedenen Zeitaltern lesen, wozu die zugrundeliegende Figur von Gewohnheit und Sezession bedenken, wozu, auf der anderen Seite, die angestammte Hausmacht all des Habitualisierten und Routinierten durchaus auch als berechtigt bestaunen – wenn nicht am Ende ein Szenario erschiene, das nicht eines bloß dieses Buches wäre, sondern als allzu reales vom Autor in die letzten Seiten hineingezwängt würde, das zu seiner Bestätigung unbedingt die Initiative des Lesers bräuchte.

 

Und zwar des Lesers in seiner jeweiligen Besonderheit. Sloterdijk mahnt denn auch immer wieder an: Es heiße nicht: Wir müssen das Leben ändern, sondern: Du musst Deines ändern. In der Hoffnung, dass das Einzelne, Vereinzelte, im Großen Ganzen mit den anderen umgesetzten Imperativen der Lebensänderung verbunden und verknüpft, nicht nur nachhaltig wirke, sondern vielleicht doch so etwas wie ein gemeinsamer Strang zu erkennen wäre. Diesen Strang beliebt Sloterdijk seit einiger Zeit das „Immunsystem“ zu nennen. Ein letzter, aber wie wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer funktionierenden Globalisierung bleibe noch zu tun: Nicht Kommunismus, sondern Ko-Immunismus sei die Zielvorgabe. Und zwar nicht als Option, sondern als conditio sine qua non. Mit der Welt könne es so nicht weiter gehen. Ausgerechnet unter Weltverlust leide die Menschheit oder zumindest der Teil von ihr, der immer noch das Sagen habe.

 

Dieses Buch soll der Welt als Irritation dienen, auf dass sie aus ihrer Selbstbezüglichkeit ausbreche und ein Immunsystem auf höherem Niveau installiere. Die letzten Seiten von „Du mußt dein Leben ändern“ haben etwas Evangelisches; nachdem Sloterdijk die Welt in das Buch gezwungen hat, muss er sie am Ende auch wieder herauslassen, und dann scheint sie vor uns zu stehen wie eine fantastische Kathedrale auf einem Bild von Karl Friedrich Schinkel. Sloterdijk fleht den Leser beinah an, aus all dem, was bislang das gute Erbe der Welt ausgemacht habe, nichts blindlings auszusortieren, sondern mitzunehmen in die neue Zeit. Hier taucht ein Resterbe von Hegel auf, dessen Dialektik als eine Prä-Immuntheorie zu verstehen wäre. Wehret auf jeden Fall den blinden Radikalismen, denn sie bringen wertvolle Kulturtechniken zum verschwinden. Aus dieser Perspektive ist es völlig logisch, dass Sloterdijk die moderne Kunst als „Katastrophe“ beschreibt, denn hier fangen die Künstler plötzlich an, nicht mehr nachzuahmen wie all die 50 Generationen zuvor, sondern sie postulieren, alles auf ihre Kappe zu nehmen. Diese Kappe, so der Autor, ist in jedem Fall zu klein und gering.

 

Sloterdijk lässt sich erst gar nicht ein auf die schon so oft geführte Debatte, was Kunst sei, was Künstler dürfen, er konstatiert nach dem Phänomen des l’art pour l’art des 19. Jahrhunderts das des Kunstsystems für das Kunstsystem. Hinter diesen Stäben sei definitiv keine Welt mehr. Der Panther muss wieder raus, der Künstler zurück in die Welt, damit auch der Kunstbetrachter wieder das Kunstspiegelkabinett verlassen kann. Sloterdijk sind in diesem Buch wunderbare kleine und manchmal auch größere Betrachtungen gelungen – am Ende war klar, dass ein Knaller mit Rückstrahleffekt das Buch erhellen musste, um es aus der Ecke des bloß Artistischen herauszubekommen. Somit stellen jene letzten Seiten die Wette dar, die eigentlich jeder Wette entzogen sein müssten aufgrund der postulierten Dringlichkeit der Weltveränderungskultur. Sloterdijk spekuliert auf das wunderbare Zusammentreffen der unzähligen Einwürfe, wo dann doch noch so etwas wie ein übergeordneter Tanz zu erkennen wäre, ohne dass man sich vorher über die einzelnen Schritte ausgetauscht hätte. Warum also der Leistungsethiker Schiller in diesem Buch überhaupt nicht auftaucht, ist ein Rätsel.

 

Dieter Wenk (05-09)

 

Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik, Frankfurt am Main 2009 (Suhrkamp)

 

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