2. November 2003

Physiognomische Studien

 

Eine Schauspielkunst wie nach einem unstimmigen Algorithmus. Oder in übererfüllter Befolgung der Anweisungen des Regisseurs. Auf jeden Fall fällt dieses Gesicht des Peter O’Toole ständig aus dem Film heraus und scheint ihn physiognomisch kommentieren zu wollen. Es gibt kaum eine Szene, wo man es nicht sieht. Es erreicht in einem fort Amplituden der höchsten Aufmerksamkeit. Und genau dort sieht der Held sich als Schatten seiner selbst. Es ist der Blick des schuldbeladenen Helden im Amphitheater, der zum Schutz seiner selbst eine Maske aufzieht und mit ihr zeigt, dass er an sich arbeitet und dass er der erste wäre, der sich bei Nichteinlösung abstrafen würde. Diese Maske ist in der Weise lebendig, dass sie die Bewegungen des darunter liegenden Fleisches ahnen lässt. Der jähe Schreck, den das Gesicht in vielen Einstellungen präsentiert, ist der zurückgenommene Schrei über eine Tat, die nicht in eigener Verantwortung geschah, die aber genau so interpretiert wird. Ein Gesicht geht dann auf Pilgerfahrt und will sich vergessen. Aber Jim ist ein Nachfahre Kains, er ist gezeichnet, aber während Kain geschützt ist, nutzt man Jim aus. Sein Idealich hat er einmal verraten, auch wenn er das nicht wollte, jetzt ist sein Leben eine einzige Attacke seines Ichideals, das ihm in jeder Lebenssekunde den Abstand vormisst. Gold wert sind dann die Szenen, in denen er genau die traumatische Situation wiederholt und er noch einmal die Chance erhält, sich zu bewähren. Aber auch wenn das gelingt, so ist die Bewährung doch nur eine Zweitsituation, die nur den Wert erhält aufgrund einer vorgängigen Schlappe als Trauma. Aus dem Genuss des doch-auch-ein-Held-sein-könnens entwickelt sich jedoch ein richtiger Sport. Das kann eine richtige Berufung werden. Der Mann, der nie weicht, sich immer stellt, der kompromisslos die Ausgangsbedingungen aufstellt und unterzeichnet und dem man absolut vertrauen kann. Dem man gerade deshalb vertrauen kann, weil er einmal versagt hat und diese Situation nun nie wieder zulassen kann. Er ist der perfekte Joker, der absolute Agent, der Mann von Ehre, weil er sie sich gegenüber verloren hat. Auf seinem Gesicht zeigt sich die Schranke, die sich in jedem Moment auftut, die ständig da ist, und die ständig überwunden werden muss. Von daher dieser Dauerexpressionismus, der einen unter normalen Umständen völlig fertig machen müsste, der aber hier der einzige Stachel ist, unter dem ein Leben weiter lebt. Es ist der Fanatismus der zweiten Chance, der vergessen machen möchte, dass die zweite Chance überhaupt nötig war. Es ist der unmögliche Versuch, dieses Leben von hinten aufzurollen und in einem ungeschehen zu machen durch eine Neueinsetzung, die gnädig die Maske vom Gesicht reißt und die Blicke der anderen löscht. Das wäre ein neues Kraftfeld, in welchem das Gesicht sich geschmeidiger in den Strom der Ereignisse einfügen könnte, ohne ihn von vornherein auf sich fixieren zu müssen, um ein weiteres Mal die Schuldfrage zu stellen, die automatisch das Drama wiederholt. Es ist diese Daueridentifikation, die psychotische Dauerschübe produziert und in diesem Fall einen Helden wider Willen, dessen Heldentum grimassenhaft auf die Produktionsstätte verweist, die wie ein Krebs funktioniert, nämlich als Bildner des zwanghaften Helden im Netz der Metastasen. Den sich daraus ergebenden Gesichtsriktus mit Hollywood-Mitteln gezeigt zu haben, wo man sich darin täuschen konnte, es mit Proben auf dem Weg zu einer sublimierten Form zu tun zu haben, gehört zum mindestens halb-unfreiwillig Komischen des Films. Manchmal ahnte man, wie gut die Vorlage sein muss.

 

Dieter Wenk

 

Richard Brooks, Lord Jim, GB 1964