24. Mai 2009

Nosferadamsberg

 

17 Fußstümpfe vor einem Londoner Friedhof, eine geschrotete Leiche bei Paris, eine weitere in Österreich. Nur wenige Hinweise lassen einen Zusammenhang vermuten, Kommissar Adamsberg geht ihnen nach. Der neue Krimi der viel prämierten französischen Königin des Roman noir ist da.

 

Sie hat mit ihren Büchern alles erreicht, was man in ihrem Genre erreichen kann. Sieben ihrer bisher 17 erschienenen Kriminalromane wurden europaweit prämiert. In ihrer Heimat Frankreich hat sie keinen Preis der Kriminalliteratur ausgelassen. In Deutschland erhielt sie 2004 den Deutschen Krimipreis und steht seither in einer Reihe mit Donna Leon, Henning Mankell und John Le Carré. In Finnland erhielt sie erst im vergangenen Jahr den nationalen Krimipreis für ihr bisher übertragenes Gesamtwerk. Und auch in Großbritannien, der Heimat des Kriminalromans, heimste sie die wichtigsten Lorbeeren der Ermittlerliteratur ein. Die Rede ist von Fred Vargas.

Die französische Autorin arbeitet hauptberuflich als Archäologin beim nationalen Forschungszentrum und erkundet die mittelalterliche Geschichte Europas. Ihre Krimis schreibt sie hauptsächlich in ihren Ferien. Wenn andere sich erholen, begibt sie sich mit ihrem Kommissar Jean-Baptiste Adamsberg auf Verbrecherjagd. Seit jeher spielt dabei die europäische Geschichte des Mittelalters eine wichtige Rolle. Sei es, dass sie die Angst vor der Pest wieder aufleben lässt („Fliehe weit und schnell“), dass ein Mörder eine Blutlinie durch Frankreich zieht – mit einem Dreizack („Der vierzehnte Stein“) oder sie, wie in ihrem neuen Roman „Der verbotene Ort“, die Mythen und Sagen der Vampire wieder aufleben lässt. Im Mittelpunkt dieser betörend jenseitigen Romane steht ihr ermittelnder Kommissar Adamsberg, ein maulfauler, introvertierter, höchst eigener Bauchmensch. An seiner Seite steht eine illustre Schar skurriler Personen, wie sein Assistent Danglard, eine Art wandelndes Lexikon, oder Retancourt, der schwergewichtige feminine Rückhalt in der Brigade.

Mit „Der verbotene Ort“ legt Fred Vargas erneut einen verboten guten und packenden Kriminalroman vor, der unter die Haut geht. Während eines europäischen Polizeikongresses in London werden Adamsberg und Danglard Zeugen eines skurrilen Vorfalls. Vor dem sagenumwobenen Friedhof Highgate werden 17 abgestellte Schuhe gefunden – in ihnen noch die abgeschnittenen Füße ihrer ehemaligen Besitzer. Danglard meint, die Füße seines serbischen Onkels wiedererkannt zu haben. Zurück in Paris wird Adamsbergs Einheit zu einem Tatort gerufen, der seine ganze Aufmerksamkeit erfordert. Nichts Geringeres als ein Massaker scheint in der Villa außerhalb von Paris stattgefunden zu haben. Die kaum erkennbaren Überreste eines ehemaligen Gerichtsjournalisten liegen verbrannt im Kamin oder sind im Salon des Hauses verteilt, nachdem man sie anscheinend durch einen Fleischwolf gedreht hat. Einziges brauchbares Indiz in dem Haus ist ein Brief des Opfers, in dem er von einem serbischen Dorf spricht. Nun beginnt Adamsberg nach der Verbindung zwischen Großbritannien, Frankreich und Serbien zu suchen, während andere hinter seinem Rücken versuchen, höhere Interessen durchzusetzen und seine Ermittlungen zu verhindern. Welche Rolle spielt dabei sein zweiter Assistent Mordent dabei, dessen Tochter aufgrund ihrer Verbindungen zu einem Mordfall hinter Gittern sitzt? Als fingierte Beweise auftauchen, die Adamsberg das Massaker zuschreiben, wird es eng für ihn und er reist nach Serbien, zum Ursprung des Vampirmythologie. Dort überschlagen sich die Ereignisse und Adamsberg gerät in noch nie da gewesene Gefahr.

Fred Vargas ist mit ihrem neuen Kriminalroman erneut ein Coup gelungen. Wieder einmal führt sie ihren Lesern eine Vielzahl an potenziellen Mördern vor – wenn auch der Gärtner als möglicher Täter schnell als „Image d’Epinal“ ausscheidet –, eröffnet dunkle Wege und Seitenpfade und lässt den Leser lange im Dunkeln tappen; finale Überraschung inklusive. Dabei macht sie deutlich, warum sie zu Recht zu den Granden der europäischen Kriminalliteratur gehört. Mit den historischen Feinheiten des Falles präsentiert sie das Detailwissen der Archäologin und Historikerin, ohne dabei oberlehrerhaft zu referieren. Zugleich umschifft sie geschickt die Abgründe der Detailverliebtheit, ohne dabei nur an der Oberfläche zu schwimmen. Sie trifft die richtige Balance zwischen Anspruch an den Leser und der Pflichterfüllung der an sie herangetragenen Erwartungen an informative Zerstreuung.

Die Rezeptur klingt einfach, allein die Zubereitung ist kompliziert, um zu solch intelligenten und genialen Romanen zu gelangen. Die Täter in Vargas’ Romanen sind entweder hoch intellektuell oder aber zutiefst manisch in ihrem Tun. Dabei wandeln sie stets auf den verborgenen Nebenpfaden der dunklen und fast in Vergessenheit geratenen Geschichte und bedienen sich den verdeckten Mythen der europäischen Völker. Deren Details lüftet Danglard, Adamsbergs Vollzeitenzyklopädie auf Beinen. Zu jedem Tatort, jeder Täteranspielung, jedem Detail präsentiert er das notwendige Hintergrundwissen, holt die irrsinnige Tat aus ihrer Absurdität und gibt ihr die Daseinsberechtigung in der aufgeklärten Welt. Danglard ist dabei das rationale Korrektiv zu Adamsberg, der den Leser mit seiner intuitiven Ermittlungsarbeit in die Psyche des Täters führt. Sein Vorgehen ist dabei aber nicht immer nachvollziehbar, weder für seine Brigade noch für den Leser. Danglards Entzauberung der Welt folgt also Adamsbergs Mystifikation der Tat. Gerade das kann ihm in Vargas’ neuem Kriminalroman zum Stolperstein werden, in dem nicht nur seine Karriere, sondern auch sein Leben an dem berühmten goldenen Nagel hängt.

Mit „Der verbotene Ort“ setzt Fred Vargas erneut einen Meilenstein der europäischen Kriminalliteratur. Sie lässt den Leser in einen lektoralen Rausch gleiten. Witzig, spannend und finessenreich entwirft sie einen Plot, der sich einerseits in ihr Gesamtwerk einreiht, andererseits aber einen neuen Höhepunkt darstellt. Dies alles kann man dem neuen Roman attestieren, obwohl die Nachbetrachtung des gelösten Falles zu lang geraten ist und dazu führt, dass man die letzten Seiten eher pflichtbewusst als neugierig hinter sich bringt. Und dennoch sind nur die höchsten Töne ausreichend, um diesen Krimi zu loben. Darüber hinaus hat der Aufbauverlag mit Waltraud Schwarze eine Übersetzerin betraut, die dem tiefgründigen Wortspiel und Wortwitz der Französin gewachsen ist, ohne dabei auf gestelzte Formulierungen und Fantasiewörter zurückgreifen zu müssen. Nach dem Ausscheiden des langjährigen Übersetzers Tobias Scheffel war dies in den letzten Romanen nicht garantiert.

Wer dieses Buch zur Hand nimmt, sollte sich darauf gefasst machen, dass er es nicht mehr zur Seite wird legen wollen. Vargas schreibt darin erneut über die irrsinnigen Abgründe eines Verbrechens, das tiefe Löcher in unser behütetes Leben reißen und uns ratlos zurücklassen würde. Vielleicht liegt gerade darin das Geheimnis ihres Erfolges.

 

Thomas Hummitzsch

 

Fred Vargas: Der verbotene Ort. Aus dem Französischen von Waltraud Schwarze. Aufbau Verlag. Berlin 2009. 423 S. 19,95 €. ISBN: 3351032560.

 

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