Vom Ende der Mythen
Wer sich den Kinofilm „Operation Walküre – Das Stauffenberg-Attentat“ angesehen hat, wurde Zeuge der Verarbeitung einer der vermeintlich größten deutschen Legenden – dem Preußenmythos. Dieser Mythos von Preußens „Glanz und Gloria“ entging mit dem Attentat auf Adolf Hitler durch die preußische Militärelite nur knapp dem selbst gewählten Untergang in Schimpf und Schande. Denn nicht zuletzt der preußischen „Untertanenmentalität“ im wilhelminischen Deutschland, wie sie Heinrich Mann in seinem Roman „Der Untertan“ beschrieb, war der rasante und nahezu ungehinderte Aufstieg der Nationalsozialisten im Dritten Reich zu verdanken. Die Verschwörung um Claus Schenk Graf von Stauffenberg war das letzte Aufbäumen der preußischen Generalität gegen die Nationalsozialisten, um sich, ganz im Kant’schen Sinn, aus der „selbst verschuldeten Unmündigkeit“ zu befreien. Nur aufgrund dieser widerständlerischen Ehrenrettung eignete sich das Preußentum als idealer Gründungsmythos für die Bundesrepublik, der bis heute fortwirkt. Mit der vom Bundestag beschlossenen Rekonstruktion des Stadtschlosses in Berlins Mitte wird nicht versehentlich die einstige preußische Parademeile „Unter den Linden“ komplettiert.
Doch wozu brauchen wir heute noch Mythen, gerade wir Deutschen, 90 Jahre nach Versailles und 70 Jahre nach dem Überfall auf Polen? Haben die deutschen Mythen hier nicht eher ins Verderben geführt? Denken wir an die erfreulichen Jubiläen dieses Jahres – wir feiern auch den 60. Geburtstag des deutschen Grundgesetzes und befinden uns im Jahr 20 nach der Wiedervereinigung – kommt doch die Frage auf, ob Mythen hier überhaupt eine Rolle gespielt haben. Verhält es sich noch so, dass „selbst der Staat … keine mächtigeren ungeschriebnen Gesetze als das mythische Fundament“ kennt, wie Friedrich Nietzsche einst in seiner „Geburt der Tragödie“ annahm? Die heroischen Gründungsmythen von aufgeklärten Staaten wie Frankreich oder der USA, die sich ihre Werte und Normen in der Revolution und im Bürgerkrieg scheinbar erstritten haben, geben Anlass, Nietzsches Ansicht nicht sofort zu verwerfen. Denn ebenso, wie sich der französische Staat als auf die Errungenschaften der Französischen Revolution gebaut begreift, sieht die USA ihre Werte und Normen noch heute als Ergebnis des amerikanischen Bürgerkriegs. Beide Staaten scheinen in der mythologischen Retrospektive wie ein Phönix aus der Asche des Bruderkampfes aufgestiegen. Diese positivistische Deutung hält sich bis heute hartnäckig, sodass ihr weder die faschistische Kollaboration oder die Kolonialverbrechen auf französischer Seite noch der Rassenhass oder der Vietnamkrieg auf amerikanischer etwas anhaben kann.
Ganz anders der Umgang der deutschen Gesellschaft mit ihren Mythen. Die Instrumentalisierung der deutschen Mythen im Dritten Reich zeigt nicht zuletzt, welche Gefahr in der mythologisch-politischen Verwendung und Verankerung liegt. Gemeinsam mit dem ambivalenten Verhältnis der Deutschen zur BRD und DDR erschwert dieser Missbrauch deutscher Legenden einen offenen Umgang mit den nationalen Mythen. Bereits dem Begriff des Mythos an sich ist inzwischen die Rückwärtsgewandtheit inhärent und verweist so auf die kriegerische deutsche Geschichte. Die deutschen Mythen tragen die deutsche Historie und werden von ihr getragen. Sie machen zum Großteil auch deutlich, dass das Bild vom friedlichen Deutschland unserer Tage (ob die deutschen Auslandseinsätze ein humanitärer Beitrag zu einer besseren Welt oder ein Beitrag in einer vom Krieg geprägten Welt sind, muss an anderer Stelle diskutiert werden) erst nach dem Krieg entstehen konnte.
Der Berliner Politologe Herfried Münkler hat sich mit seinem neuen Buch „Die Deutschen und ihre Mythen“ an diesen heißen Stoff gewagt und ein besonderes Geschichtsbuch geschrieben. Er macht darin deutlich, welchen Anteil die einzelnen Mythen an der deutschen Kultur und Unkultur hatten und haben. Den sozio-kulturellen Fundus, der verstaubt in unseren Bibliotheken auf Wiederentdeckung wartet, hat Münkler in seinem neuen Werk nicht nur zusammengetragen, sondern auch auf erfrischende Weise zugänglich und verständlich gemacht. Hierfür beschreibt Münkler zunächst die zugrundeliegenden (zeit)historischen Fakten, sodass der Leser einen losgelösten Blick auf die deutsche Geschichte erhält. Anschließend betrachtet der Politologe die Reflexion und Verwendung der historischen Ereignisse und Personen, die dann zum Mythos wurden. Eine Vielzahl an deutschen Gedichten und Sagen steht ihm dabei Pate. So entsteht ein Bild der traditionellen – man möchte fast „altdeutsch“ sagen – Mythen. Den traurigen Höhepunkt spielen dennoch fast immer die politisch-legitimatorischen Berufungen auf die historischen Mythen der letzten beiden Jahrhunderte. Derart macht Münkler deutlich, dass der Missbrauch der Mythen durch die Nationalsozialisten und dessen Vorspiel im expansionistisch agierenden preußisch-wilhelminischen Kaiserreich ihre weitere Verwendung und/oder politische Anlehnung unmöglich gemacht haben. Ein „überbordender Reichtum an politischen Mythen“ habe eben seinen Preis, wie Münkler Eingangs den deutschen Erfahrungen im 19. und 20. Jahrhundert attestiert.
Der Professor für Politiktheorie an der Berliner Humboldt-Universität hat sich in den vergangenen Jahren vor allem als Experte der „Neuen Kriege“ einen Namen gemacht. An seiner Universität eilt ihm ein zwiespältiger Ruf voraus. Seine zahlreichen außeruniversitären Engagements stoßen auf wenig Gegenliebe, da der fast väterliche Professor für seine Studenten so noch schwerer zu greifen ist. Zugleich füllt er mit seinen Machiavelli-Seminaren und Utopie-Vorlesungen selbst zu studentischen Unzeiten die großen Säle der Humboldt-Universität. Dies verdankt er seiner wertvollen Gabe, sein umfassendes Wissen geradezu spielerisch zu vermitteln.
Diese Gabe spiegelt sich auch in seiner Untersuchung zum Verhältnis der Deutschen zu ihren Mythen wider. In ruhigem und gewissenhaftem Duktus holt er darin weit aus und bringt dem Leser die großen deutschen Mythen und ihr Fortleben, Umdeuten und Wirken nahe, angefangen bei dem Cheruskerfürsten Arminius über Deutschlands Nationaldichter Johann Wolfgang von Goethe bis hin zum deutschen Papst.
Sein erstes Kapitel widmet Münkler den sogenannten „Nationalmythen“, zu denen seinen Ausführungen zufolge die Kaiserlegende um König Barbarossa, der Heldenmythos der Nibelungensage sowie der Faustische Teufelspakt gehört – allesamt Erzählungen von historischen Niederlagen. „Keiner dieser Mythen war eine Erfolgserzählung. Was Erfolg in der Zukunft garantieren sollte, beruhte auf der Erzählung von Scheitern in der Vergangenheit.“ Die zahlreichen Barbarossa-Referenzen in der deutschen Dichtung, die Nibelungen-Bezüge in Musik und Literatur und die schriftliche Verankerung des Faustischen Dramas, angefangen bei Johann Spies’ „Historia von D. Johann Fausten“ bis hin zu Thomas Manns „Doktor Faustus“, legen nahe, dass Münkler hier vor allem auch die deutsche Literatur sprechen lässt. Er macht zugleich deutlich, warum das Nibelungenlied zur Hymne der Schützengräbengeneration wurde und wieso die Deutschen als Volk der Dichter und Denker mit dem Teufel paktieren. „Es geht um Todesmut als ästhetisierte Form der Hingabe an ein als unabwendbar stilisiertes Schicksal“, also um eine „seelische Verfassung“ – am widerwärtigsten und folgenreichsten zunutze gemacht im nationalsozialistischen Endkampfwahn.
Folgend beschreibt Münkler die historisch-mythischen Stationen im deutschen „Kampf gegen Rom“, der seinen Anfang in der Niederlage des römischen Statthalters Quinctilius Varus im Teutoburger Wald nimmt, einen weiteren Höhepunkt in den Ereignissen um den Gang nach Canossa erfährt und in Luthers Reformation gipfelt. Diese historischen Ereignisse wirken in der mythologischen Deutung allesamt als Fixpunkte in „Zeiten der Unterlegenheit“, die Einigkeit und Zusammenhalt erfordern. Der Cherusker Arminius bzw. der deutsche Herrmann dient dabei als der innere Versöhner der Germanen, das Schicksal Kaiser Heinrich IV. als Zeichen der Demütigung des deutschen Kaisertums durch die römische Kirche und Luther als theologisches bzw. sozialpolitisches Vorbild des friedlichen Widerstands.
Anschließend erhält Preußens Glanz und Gloria ein ganzes Kapitel. Dies erscheint nicht zwingend notwendig, ist aber aufgrund Münklers Hinweis auf den „überbordenden Reichtum“ in dieser Zeit und dessen Preis in der Folge nachvollziehbar. Die großen Pole des mythischen Preußentums bilden die großen Pole der Leidensfähigkeit (Königin Luise) und der Leistungsbereitschaft (Friedrich II.). Dazu kommen die sogenannten preußischen Tugenden Disziplin und Gehorsam, Ehre und Ehrgefühl, die sich die Nationalsozialisten am Tag von Potsdam zu eigen machten. Erst Stauffenbergs Attentat kündigte diese symbiotische Verbindung erkennbar auf. Dass Münkler allerdings glaubt, dass sich aufgrund des Verschwindens des preußischen Staates politisch nicht mehr an den Borussenmythos anknüpfen lässt, verwundert. Es ist schließlich nicht das Verschwinden, sondern der anfangs willfährige Dienst und spätere Missbrauch der „preußischen Tugenden“ im Nationalsozialismus, der die politische Berufung auf den Preußenstaat unmöglich macht!
Schließlich folgt eine Auseinandersetzung mit einigen mythischen Orten in Deutschland. Neben der Wartburg nennt Münkler hier Weimar und den Rhein, aber auch die im Zweiten Weltkrieg zerstörten Städte Dresden und Nürnberg. Die historisch harmlos anmutenden Legenden um Weimar als Heimstätte des deutschen Bildungsbürgertums und den Rhein als Hüter und Beschützer des Nibelungenhorts gehen so, wie schon die zuvor aufgereihten Mythen, in den Trümmern des zweiten Weltkriegs unter.
Die abschließende Auseinandersetzung mit den deutschen Nachkriegsmythen fällt relativ knapp aus. Der Osten als Heimstatt der tatsächlichen Antifaschisten, der Westen als Erfinder des Wirtschaftswunders – und schon ist Münkler mit seinem Mythenlatein am Ende. Dies muss nicht verwundern, denn mit dem Einzug der Moderne haben die Mythen einen Großteil ihrer Wirkung verloren. An die Stelle der Mythen ist in Deutschland im positiven Sinne das Grundgesetz und die politische und gesellschaftliche Emanzipation und im negativen Sinne die über 40 Jahre geteilte Realität getreten.
Münklers Sprachlosigkeit ist ein Anzeichen für das Ende der mythischen Macht. Einzig und allein die Saga der deutschen Romantik und des Klassizismus, die Ära von Jena und Weimar wird noch ab und an zu Rate gezogen, wenn es mal wieder darum geht, die Deutschen – allen Pisa-Resultaten zum Trotz – als eine „Nation der Dichter und Denker“ hinzustellen und das Land zur Bildungsrepublik zu stilisieren. Anlehnungen an die preußisch-wilhelminische Leistungsgesellschaft sind hingegen absolut tabu, obwohl die globalisierten Verhältnisse von uns allen permanent Leistungsbereitschaft einfordern. Und dennoch, derlei Bezüge werden allenfalls von außen herangetragen und stehen sinnbildlich für die Bedrohung durch die blinde deutsche Disziplin. Der Missbrauch der Mythen durch die Nationalsozialisten hat dazu geführt, dass allem Mythischen der Revisionismus wie frischer Teer am Schuhwerk klebt, sodass ein Rückgriff auf den Mythos zur historischen Selbstvergewisserung und politischen Legitimation politisch-moralisch kaum mehr möglich und gewollt ist. Insofern unterscheidet sich Deutschland von den USA oder von Frankreich.
Dass der Berliner Politologe am Ende seines Buches dennoch nach einer „gründungsmythischen Neufundierung der Republik“ – zugegebenermaßen vergeblich – sucht, kann man entweder als Symptom für seinen Irrtum, Politik heute noch mit Mythen legitimieren zu wollen, begreifen oder als Anzeichen dafür, dass Münklers Werk kein politisches, sondern ein historisches ist. Eine Legitimation des Politischen mit dem Mythischen funktioniert nicht mehr, wie auch das Scheitern des letzten Versuchs, einen neuen politischen Mythos ins Bild zu setzen, beweist. Denn der Einheitsmythos der „blühenden Landschaften“ hat die innere Spaltung der Republik nur noch mehr vorangetrieben, statt sie aufzulösen.
Die Wirkung der deutschen Mythen ist vergangen und vergänglich. Sie finden sich noch maximal in „Schlagzeilen und Werbekampagnen“, deren Halbwertzeit in unserer mediensüchtigen Gesellschaft wenige Tage kaum übersteigt. Folgerichtig hat der Mythos seinen Wert als politisches Instrument verloren. „Und das ist gut so!“ Nur durch die Loslösung von scheinbar politisch-konstituierenden Legenden kann sich die Aufklärung und Erkenntnis im besten Sinne durchsetzen. Nur leider führt Münkler seine Ausführungen nicht bis zu diesem Punkt aus.
Dennoch ist Münklers Mythenstudie ein wichtiges Buch. „Die Deutschen und ihre Mythen“ zeigt, dass die Beschäftigung mit den deutschen Legenden von Bedeutung ist, um die deutsche Geschichte besser – gerade auch abseits der historischen Randdaten – verstehen (nicht rechtfertigen!) und seine Lehren daraus ziehen zu können.
Münkler zeigt, dass der geschichtswissenschaftliche Ansatz des deutschen Sonderwegs – inzwischen selbst zum Mythos geworden – Unsinn ist. Die Sonderwegsthese versucht in der Retrospektive eine Linie zu ziehen, die im prospektiven Verlauf der Geschichte schlichtweg nicht existiert hat. Es musste nicht wegen Luther, Goethe und Bismarck zwangsweise zum Holocaust kommen, sondern es kam trotz dieser mitunter ruhmreichen Geschichte zu den unmenschlichen Verbrechen der deutschen Nationalsozialisten. Goethes Weimar konnte Hitlers Auschwitz ebenso wenig verhindern wie die zarten Klänge der Loreley das deutsche Gebrüll vom totalen Krieg. Und zugleich konnte alle Bildung einen Großteil der Deutschen nicht vor der Verführung durch die Nationalsozialisten bewahren, die sich die deutsche Geschichte dafür geschickt zunutze machten. Dem Wahnsinn des Dritten Reiches anheimzufallen war keine Frage von fehlender oder ausreichender Bildung, es war eine Frage des Charakters.
All das macht Münkler durch die Verbindung der historischen Fakten, ihrer kulturellen Verarbeitung und politischen Auslegung deutlich. Er arbeitet so die mythische Narration als insbesondere in der jüngeren deutschen Geschichte missbrauchtes „Bindeglied zwischen Vergangenheit und Gegenwart“ heraus. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist eine mythologische Legitimation politischen Handelns unmöglich geworden – und aus heutiger Perspektive auch nicht mehr erwünscht. Die Emanzipation, der Kampf um soziale Gerechtigkeit und eine Abwendung vom Krieg – im Clausewitz’schen Verständnis die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln – wäre wohl in einer Atmosphäre, die mit den Schlachten- und Heldenmythen des Mittelalters und der preußischen Disziplin aufgefüllt ist, kaum möglich gewesen.
Von Thomas Hummitzsch
Herfried Münkler: Die Deutschen und ihre Mythen. Rowohlt-Verlag, Hamburg 2009. 606 S.; 24,90 €, ISBN: 979-3-87134-607-1