1. November 2003

Der weiße Wal, noch mal

 

Während Bartleby der Erfinder der höflichen Dauernegation ist („Ich möchte lieber nicht“), so stößt man bei Kapitän Ahab auf den Vertreter des unumstößlich singulären Dauerauftrags (Rache an Moby Dick). Krank sind sie beide, Figuren, die von Versehrtheit erzählen, bei dem einen, dem Krüppel, erhält man die psychologische Folie, bei dem anderen, dem Gerichtsschreiber, weiß man eigentlich gar nicht, warum er sich so merkwürdig verhält. Aber weiß man es wirklich bei Ahab? Dieser führt doch viel eher vor, wie man sich psychologisch bei der Deklaration des Feinds irrt. Moby Dick ist nicht Feind, sondern Vorbild, vom Himmel der Götter heruntergeholt in die Tiefe des Meers. Wenn aber das geschätzte Objekt einem wehtut und einen dabei hindert, an der Selbstvergötterung zu arbeiten, ist der Teufel los. Dann muss der Gott sterben.

Es gibt die schöne Szene in dem Film, wo Ahab, belauscht von Ismael, von seiner auch körperlichen Vergrößerung spricht. Fünfzehn Meter groß, kein Auge, und vor allem kein Herz. Das Herz würde einen doch nur ständig daran erinnern, dass es keine Nachfolge Christi gibt und dass die Herzschläge des Herrn ein Trommelfeuer sind, die man gehalten ist, als Paradiesesglocken zu antizipieren. Das elfenbeinerne, künstlich applizierte Bein ist kein Elfenbein. Ich weiß nicht, ob die Situationisten Kapitän Ahab als würdigen Vorgänger der Zweckentfremdung anerkennen würden, aber genau so was macht er, allerdings in einem nicht spielerischen, sondern zwanghaften Sinn. Aber das ist Zweckentfremdung der Zweckentfremdung, und somit höchst situationistisch. Und vor allem ist Ahab ein Meister des Herumschweifens. Er benutzt sein Schiff wie ein preiswertes Taxi, um sich auf den Weltmeeren umzuschauen. Er reduziert die Wale, die er jagen soll, auf den einen, der es ihm angetan hat. Da steckt so viel Liebe wie Hass drin. Er legt die Berufung über den Beruf. Er ist der mittelalterliche Ritter, der Kämpfer gegen die Windmühlen, er hat die Chance des großen Programms, das da heißt Wahnsinn. Ein Mangel ist immer dabei, bei ihm bildet er den Rahmen: „Ich sehe immer nur das, was fehlt.“ Und was fehlt überall? Moby Dick. Und damit er selbst, Ahab. Und was braucht Ahab? Ein Riesenspektakel. Im Grunde die Revolution. Die hat er bekommen, als er zuletzt auf den Wal klettert, wenn er auch dabei zugrunde geht, und genau das haben wir auch heute, wir kleben auf dem Spektakel, auf dem Rücken des Wals, mit dem einzigen Unterschied, dass wir ein Bild dazwischengeschoben haben, das uns erlaubt, wie in einer gigantischen Dia-Show von Bild zu Bild zu wechseln. Von Bartleby besitzen wir kein Bild, bei ihm ist das Spektakel noch ganz innerlich, nicht zu veräußern, der richtige Mann am falschen Ort zur falschen Zeit. Der wahre Asylant, der nicht mehr oder noch nicht in die wirkliche Welt abhauen kann.

So gesehen ist Ahab eine der letzten großen literarischen Figuren, denen es noch einmal gestattet ist, aus sich heraus zu gehen. Danach beginnt die Zeit des verzweifelten Wünschens, wo die hergebrachten Glaubenssysteme erneut die Stelle des praktizierten Wahnsinns übernehmen oder auch die unsäglichen Forderungen nach neuer Mythologie. Wir begnügen uns heute mit der Methode des überall geläufigen kleinen Remakes, das den Abstand der tausend Übergänge eingezogen hat. Deshalb geht es uns auch so gut. Das ist vielleicht nicht elegant, aber doch effizient.

 

Dieter Wenk

 

Franc Roddam, Moby Dick, USA 1997