24. April 2009

Thriller als Kommodenschau

 

Der Alltag

Die Präsenz von Kommoden in diesem Roman, einem Familien- und Kleinstadtroman, ist auffallend hoch. Vielleicht liegt das daran, dass Kommoden generell nur ganz selten eine rein ornamentale Funktion einnehmen. Sicher, man kann einfach Sachen auf ihnen abstellen, aber interessant werden sie dadurch, dass man etwas in ihnen verstecken kann. Vielleicht verbirgt sich in ihnen ja auch ein Verbrechen oder der Schlüssel zu dessen Aufklärung. Die Rolle der Kommode in Stewart O’Nans „Alle, alle lieben dich“ ist eine Art Messinstrument, ein Zustandsmelder von Befindlichkeiten, ein bedeutsames Detail, das den Gang der Geschichte begleitet und damit reflektiert. Die Familie – das sind Ed und Fran als Eltern und Kim und Leslie, die Töchter. Und dann ist da noch der Hund, Cooper, der zum Beispiel mit der Schnauze die Tür von Leslies Zimmer öffnet und mit seinem Kopf dann unter der „Frisierkommode“ liegt. Das ist die Normalität.

 

Die Störung

Schnell schwindet sie, denn eine junge Frau, Leslies ältere Schwester Kim, verschwindet von der Bildfläche. Gerade war sie noch mit ihrem Auto auf dem Weg zur Arbeit, plötzlich – nichts mehr. Man ist beunruhigt, Wäschekörbe und „Kommoden“ werden durchsucht, ob vielleicht Kleidung fehlt. Schnell ist auch schon der Detective im Haus und weist seinen Hilfssheriff an, mit der „Taschenlampe unter Bett und Kommode und auf den Boden des Wandschranks“ zu leuchten. Privat initiierte Suchaktionen starten und nehmen ihren Lauf.

 

Symbolik

Cooper schläft zwar immer noch unter der „Kommode“, doch jetzt mit dem Hinweis, „als wäre er dadurch unsichtbar“. Sogar die Tiere werden in die Tragik der Abwesenheit mit einbezogen.

 

Spuren?

Natürlich muss auch Kims Kommode selber präsentiert werden, denn auf ihr befindet sich der „wahre Schatz“: „ihr Schmuckkasten, kastanienbrauner Samt mit einem Dutzend kleiner Schubladengriffe, die wie Luftgewehrkugeln aussahen…“ Ist das ein Hinweis, die Luftgewehrkugeln? Ein Hauch von Aggression, der von Kim ausgeht oder sie als Opfer betrifft? Lindsay jedenfalls muss diesen Schatz untersuchen, gerade jetzt, nach dem Verschwinden der Schwester, ein kleiner Zettel, den sie findet, trägt eine winzige Aufschrift: „DU NERVST“, in Majuskeln: ein Zeichen für eine widersprüchliche Persönlichkeit?

 

Labilitäten

Lindsay ist die ganze Zeit ziemlich cool, anders als ihre Eltern. Der Vater ist so labil, dass er sich an einer Stelle an Kims Kommode festhalten muss, um nicht zu fallen. Fran, seine Frau, die auch eher abgeklärt wirkt, schickt ihn dann auch gleich unter die Dusche.

 

Recherche

Nachdem irgendwann immerhin Kims Wagen gefunden wurde, macht sich Ed auf, den Wagen in Augenschein zu nehmen. Dazu muss er selber ins Auto steigen, weit fahren und ein Hotelzimmer nehmen. „Es war ein muffiger Raum aus Betonziegeln, an der Wand eine kniehohe Kommode mit einem staubigen Fernseher, der von einer plastikbeschichteten Werbung für Pizza Hut gekrönt war.“ Das sind präzise Vorlagen für eine Verfilmung.

 

Simulation

Die Nachforschungen der Polizei und eines Privatdetektivs kommen nicht wirklich voran. Der Sommer vergeht, das Jahr, ein weiteres, die Familie beginnt, definitiv Abschied von Kim zu nehmen. Sie war wohl Opfer eines Verbrechens, das vermutlich nie aufgeklärt werden wird. Und doch kommt es immer wieder zu Irritationen, auch bei Fran, wenn sie statt Weihnachtsgeschenke zu besorgen vielmehr an den „Schmetterling“ denkt, den Kim trug, als sie verschwand. Wenn Fran jetzt einen neuen Schmetterling kaufte, müsste sie ihn „verstecken, die Samtschatulle heimlich aus der Kommode holen, wenn sie allein war, und den Deckel aufklappen, um den Anhänger wie einen Talisman zu bewundern, als besäße er die Kraft, seine Trägerin wiederzufinden.“

 

Tatsachen

Und dann taucht er tatsächlich auf, der echte Schmetterling, und mit ihm Kim: „Nach einer Weile stand Fran auf und presste den Schmetterling mit der Hand auf die Kommode, um zu sehen, ob sie ihn wieder gerade biegen konnte.“ Natürlich lässt sich hier nichts mehr gerade biegen. Geschehen ist geschehen.

 

Ein anderes Leben

Das einzige, was bleibt, ist zu versuchen, eine neue Normalität zu erreichen, so macht es jedenfalls Lindsay, die jetzt auch schon 19 ist: „Am College hatte sie überlegt, ob sie die Puzzlebox oder irgendeinen anderen Schatz aus Kims Kommode mitnehmen sollte. Am Ende betrat sie nicht mal ihr Zimmer.“ Stewart O’Nan hat schon einen sehr eigenartigen Thriller geschrieben.

 

Dieter Wenk (04-09)

 

Stewart O’Nan, Alle, alle lieben dich. Roman, aus dem Englischen von Thomas Gunkel, Reinbek bei Hamburg 2009 (Rowohlt)

 

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