7. April 2009

Land des Zerfalls

 

Hat man jemals eine elegantere Einführung in die forensische Anthropologie bzw. Pathologie gelesen wie hier in S. Becketts „Leichenblässe“? Es ist, als ob Beckett die Form einer Kippfigur (sie wird nicht die einzige bleiben) benutzt hätte, die zweite Figur jedoch keinen Rückgang zur ersten erlaubt wie bei der normalen Kippfigur. Beckett folgt auf den ersten Seiten einfach seinem Helden Dr. David Hunter auf dem Weg vom Leben zum Tod. Die Auferstehung bleibt nach wie vor auf einen kleinen Personenkreis begrenzt und ist Sache der Vergangenheit. Natürlich verhindert die Eleganz nicht, dass die Betrachtung des menschlichen Körpers – aus der Sicht des Gerichtsmediziners also der Leiche – nicht gewöhnungsbedürftig ist. Die sogenannte body farm im US-amerikanischen Tennessee ist das genaue Gegenteil eines jeden Schönheitsbauernhofs. Kein Enhancement, keine Korrekturen in Richtung supponierter Perfektion – auf der body farm herrscht ausschließlich der Verfall des Körpers in wissenschaftlich differenzierten Stufen.

 

Doch das ist erst der gemächliche Anfang von Zersetzungsbeobachtungen, die schnell vom rein Pathologischen ins forensische Fach gleiten. Hunter und sein Mentor, der an angina pectoris leidende Professor Lieberman, werden mit Fällen konfrontiert, die alle Sinne in höchstem Maße in Beschlag nehmen und sich als normsprengend erweisen. Anders gesagt: die Toten, oder das, was von ihnen noch übrig ist, stellen den forensischen Anthropologen ein Zeitproblem. Immerhin sagt ihnen das so viel, dass der Täter sich mit dem Zerfall von Körpern selber ganz gut auskennen muss. Ein rein internes Problem also? Aber das wäre fatal für die Untersuchenden, denn dann wären sie die nächsten Opfer. Unbarmherzig schließen sich Kreise. Aber der Täter legt nicht nur selbstgelegte Spuren. Er macht Fehler. Oder hat er einfach nur Pech und die anderen Glück, dass sie ihm auf die Spuren kommen?

 

Der Mörder jedenfalls hat ein ausgeprägtes Peeping-Tom-Syndrom, wobei dessen Todesvoyeurismus eng gekoppelt ist mit dem Willen zu wissen. Aber was? Das weiß vielleicht nur der Mörder, aber es hat mit dem Höhepunkt des Lebens zu tun, bevor es definitiv in den Tod übergeht, der Akme des Todeskampfs, wo das Leben sein Geheimnis ausplaudert. Und wo schaut man dann hin, in die Augen, in den Gesamtkrampf des in den letzten Zügen liegenden Gesichts? Die Tatsache, dass der Täter ein Serienmörder ist, zeigt natürlich, dass die Antwort nicht ganz leicht fällt und eine gewisse Perversion das bloß physiognomische Ratespiel überdeckt. Das Ende des Thrillers ist überaus spannend, auch wenn es von der Konstruktion nicht ganz zu überzeugen vermag. Es greift zwar die bereits erwähnte Topik der Interna auf, wirkt aber wie eine Deus-ex-machina-Lösung ohne offensichtliche Not. Wie auch immer, diesem David Hunter schaut man gerne bei der Arbeit zu, und die Nase muss man sich auch nicht zuhalten.

 

Eine Übersetzungsmarginalie: Bei verbrannten Leichen spricht man im Deutschen nicht von „Boxerstellung“ (so im anglo-amerikanischen Raum), sondern von „Fechterstellung“, also der Beugung der Arme durch die hitzebedingte Schrumpfung der Muskulatur.

 

Dieter Wenk (04-09)

 

Simon Beckett, Leichenblässe. Thriller, deutsch von Andree Hesse, Reinbek bei Hamburg 2009 (Rowohlt)

 

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