7. April 2009

Selbstentschärfer

 

Die Frage wäre doch eigentlich: Wie reinstalliert man erneut das „Dynamit“, mit dem man die Bilder Vincent van Goghs jenseits der offiziellen Kunstgeschichtsschreibung gerne identifiziert? Antonin Artaud etwa versuchte verzweifelt, das angeblich apotropäische Schutzschild niederzureißen, das die wahre Energie der Bilder van Goghs verdecke. Auch Gunnar Decker, allerdings völlig unaggressiv, bekennt sich zur Gefahr, die „eigentlich“ in den Bildern stecke, würde man sie nur wirklich auf sich wirken lassen: „… Vincent van Goghs Bilder sind sogar, im Sinne Nietzsches, ,Dynamit’.“ Ja, was sind eigentlich Bilder?

 

Ein Zeitgenosse van Goghs, Maurice Denis, sagte es so: „Se rappeler qu’un tableau – avant d’être un cheval de bataille, une femme nue ou une quelconque anecdote – est essentiellement une surface plane recouverte de couleurs en un certain ordre assemblées ». Denis’ Verwendung des Wortes « certain » (gewiss, bestimmt) lässt jedes Dynamit feucht werden. Auf jeden Fall haben sich spätere abstrakte Maler hier ihr Vokabular vorgeben lassen – von einem katholischen Maler, der alles andere als abstrakt malte und einen der missverständlichsten Sätze der Kunstgeschichte damit notierte.

 

Biografen wie Gunnar Decker müssen letztlich auf eine elitäre Betrachterschiene abstellen. Seitdem van Gogh herunterdemokratisiert wurde und im Alltagsschatz auch des Ärmsten und Dümmsten gelandet ist, muss darauf hingewiesen werden, dass man es sich mit der Kunst nicht zu leicht machen soll. Aber man kann es leider, im Unterschied zu Literatur (man denke an Joyce etc.) oder Musik (die musikalische Moderne bleibt nach wie vor draußen). Warum ist das so. Hat das mit der Zeit zu tun, die man für die Betrachtung eines Bildes braucht? Wie viel Zeit braucht man denn? Statistisch. Oder fordert sie das Bild selber ein? Hat der, der länger hinschaut, nicht schon lange das Dynamit entschärft? Dass die Leute erst einmal mit van Goghs Bildern überhaupt nichts anfangen konnten, spricht auch nicht unbedingt für die Gefahr. Also für eine spätere Zeit. Aber welche?

 

Man ist also bei Begriffen wie Gefahr, Bedrohung für die Gesellschaft oder Dynamit mitten in Mythisierungsversuchen. Woher auch wissen Biografen, dass Künstler im Schaffensrausch im entscheidenden Moment mit der Welt eins sind. Und wie, sollte das vorkommen, überträgt sich solch eine Empfindung auf die Leinwand. Und der Betrachter? Muss man sich das wie eine Kettenreaktion vorstellen? Besucher von Gewehrsalven aus Bildern umgenietet. Ein Herzinfarkt vor der Leinwand? Die Künstler müssen noch zulegen. Die Ergebnisse fielen bisher schwach aus. Trotzdem oder gerade deswegen lohnt es sich, diese Biografie zu lesen, die sich stark an den Briefen Vincents an seinen Bruder Theo orientiert. Es ist doch eher das menschliche Schicksal, das erschüttert, da kommen die Bilder gar nicht heran. Was für ein armer Mann war Vincent van Gogh. Oder war er eher ein Dickkopf? Ein Narr? Man wird es nicht wissen. Deshalb nennt sich Deckers Biografie auch Legende. Ein einfühlsames Porträt. Aber die Bilder?

 

Dieter Wenk (03-09)

 

Gunnar Decker, Vincent van Gogh. Pilgerreise zur Sonne. Eine Biografie, Berlin 2009 (Matthes & Seitz Berlin)

 

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