22. März 2009

Der Draht nach oben

 

Über Pop-Phänomene und Besserwisserei

 

Überspitzt formuliert, aber in Anlehnung an die gängige Praxis der Märtyrer- und Heiligenverehrung ist der Tag, an dem eine gesellschaftspolitische Initiative zusammenbricht, der Geburtstag der Initiative als Gegenstand mehr oder weniger hirnverbrannter Verehrung. Da es bei den Ereignissen vor rund 40 Jahren, anders als bei Märtyrern, kein definiertes oder sonst wie bemerkenswertes Abschlussdatum gibt, sondern nur eine unschärfer werdende Verbreiterung und Verdünnung mit Einflüssen, die bis auf heutige Tage zu bemerken sind, wechselt man, wie in der Geschichtsschreibung allgemein üblich, zur eben auch bei den Märtyrern gängigen Methode – dem Verfahren der Personalisierung.

 

Die Personalisierung historischer Ereignisse bietet ungeheure Vorteile. Geschichte lässt sich plötzlich als Lebensgeschichte darstellen, also im schönsten Goethe’schen Lehr-und-Wander-Jargon entfalten: als da wäre, der jugendliche Überschwang, die Lehre bei den Meistern, die volle Entfaltung der Möglichkeiten auf der Höhe des Könnens, etc. Die dabei notwendig sich einschleichende Sentimentalisierung, das Verständnisinnige, die sich auffaltende riesenhafte Projektionsfläche, also die Installierung einer Identifikationsfigur, die sich kneten und legen lässt, wie es dem jeweiligen „Gläubigen“ gefällt ... Diese Entwicklung von allgemeiner Historie zu einer personalisierten Ideengeschichte ist das, was man landläufig Pop nennt, jedenfalls dann, wenn folgende zwei Zusatzprämissen erfüllt sind: Eine irgendwie geartete Opposition, bei relativer Jugendlichkeit, die sich nicht in die Regierung verwandelt – jedenfalls nicht für lange, und außerdem ein Bewusstsein für die relative Geltungsdauer der speziellen Subjektivität als angemessenen Lifestyle, also Zeitgeist.

 

Vor allem in diesem letzten Punkt unterscheidet sich Pop von Religion, die sich ansonsten sehr ähneln. Religiöse Konstruktionen gehen stets davon aus, allzeit aktuell zu sein. Popkonstruktionen wissen um ihr Verfallsdatum, was Fans natürlich nicht davon abhält, Jahrzehnte später einer solchen Zeitgeistvergangenheit zu huldigen. Auffällig an Pop ist der konservatorische Effekt, den abgelegte oder vergangene Bewegungen haben.

 

Der Prämisse der Opposition muss mit größter Vorsicht begegnet werden. Diese Opposition ist vor allem Pose – nicht ernstliche Mobilmachung der Einzelperson, was unter Umständen von Fans tatkräftig gewendet wird, meist aber ohne langen Atem. Kurz, bei dieser Opposition handelt es sich um Coolness, die anbetungs- und damit nachahmenswert erscheint. Welche Inhalte dieser Coolness angeheftet werden, ist vollkommen gleichgültig, denn die Opposition als Pose ist leer, man kann alles daran heften, und das wird so lange gut gehen, wie es der Pose nicht schadet.

 

Menschen, die mit einer solchen Begabung zur Pose der Opposition begabt sind, nennt man charismatisch. Und man kann sie bekanntlich für viele Dinge brauchen. Man braucht als Fan wie als „Vorbild“/Charismatiker weder Ironie noch Grips, sondern vor allem mimetische Qualitäten. Es geht um die Nachahmung einer Wahrhaftigkeit. Weshalb die größte Sorge, um nicht zu sagen Panik, darin besteht, ein unerfülltes, also unwahrhaftiges Leben zu leben, oder fast noch schlimmer, ein erfülltes Leben zu leben, und keiner merkt es, inklusive einem selbst. Das wäre der Fall, wenn man seine Opposition nicht mit der entsprechend coolen Pose zur Geltung bringen kann. Also keine Möglichkeit zum Ausdruck dieser Haltung fände (ein Darstellungsproblem also). Peinlicherweise muss hier Heideggers Lichtung erwähnt werden, als Ort einer Erfahrung, auf die man sich spannen muss, da man sie verpassen könnte. Ein grauenhafter Zustand, in dem gleichwohl eine nicht unbeträchtliche Anzahl von Menschen verharrt, als warteten sie auf den Osterhasen. Es gibt auch Leute, die sich Kunst kaufen, um das Thema der Wahrhaftigkeit als Darstellungsproblem vom Tisch zu haben.

 

Es gehört eben zu den bedauerlichen Nachteilen der Popkultur, dass man sich in ihr häuslich einrichten kann, in treulicher Sorge um die rechte Ehrerbietung gegenüber seinem Idol und damit Schluss. Denn die einander ablösenden Popfiguren, also die wechselnden Avantgarden, geraten nur selten untereinander in Streit bei der zeitlichen, notwendigen Ablösung, da sie nicht zwangsläufig um die Aufmerksamkeit derselben Personengruppe buhlen. Das entlarvt zum Beispiel jede kommerziell strategisch organisierte Popunternehmung, da dort zu allererst Zielgruppenanalyse betrieben wird. Ignoranz, sei es durch strategisches Kalkül oder häusliche Heimeligkeit hervorgerufen, ist ein verbreitetes Phänomen, welches über wenige Etappen, aber wiederum mit der Personalisierung, also dem speziellen Personenkult, zu erklären ist. Was im Leben der angebeteten Figur nicht vorkommt oder vorkam, ist völlig irrelevant für einen echten Fan.

 

Bemerkenswert ist nun die Stilisierung einer Einzelperson zum Popphänomen, deren Tun und Trachten zu ihrer Zeit durchaus forciert poporientiert ablief, jedenfalls medienaffin – mit dem Wissen um die psychologischen Wirkungsweisen, wie anfangs kurz eingeführt, diese Figur aber eben keine leere Pose des Pop einnimmt, sondern eine emanzipatorische, aufklärerische und elitäre Position bezieht. Ihre „Professionalität“, also Medienkompetenz, strahlt aber in die Gefilde des Pop aus. Zu dieser Konstruktion eines elitären Weltkonzepts, wie Charles Manson es entwickelte, gehört wesentlich das Popzitat, „helter skelter“ zum Beispiel, was eine Einspeisung in den Medienverteiler ohne Schwierigkeiten ermöglicht und stark vereinfacht. Es gehört ebenso zu den Spezifika eines Medienspektakels, dass es sich völlig ungerührt von den eigentlichen Ideen entfaltet (Medienkompetenz liegt ja gerade in der Produktion von leeren Posen und hohlen Phrasen), sodass man im Rückblick gefühlte 300.000 weitere Popzitate zu „helter skelter“ oder „healter skelter“ etc. findet, während die spezielle Verschwörungs- und Emanzipationsidee als evokativer Grund benutzt wird, ohne davon nähere Kenntnis zu haben oder auch nur das Bedürfnis, diese vielleicht einmal zu recherchieren – solche Unkenntnis ist kein Manko im Pop (andernfalls hätten wir viel weniger Pop). Man kann diese Spezialität des mangelhaft recherchierten, also bloß evokativen Grundes bei allen im Umlauf befindlichen, also bekannten Verschwörungstheorien wahrnehmen, besonders bei denen, die nicht durchgeführt oder nicht im Sinne ihrer Erfinder verliefen. Diese dunstige, die Gemüter gleichwohl in angenehme Unruhe, weil in Unklarheit versetzende Situation der Verschwörung ist faszinierend, besonders wenn die Verschwörer mit quasi-messianischen Qualitäten, also Charisma ausgestattet sind. Leute, die einen direkten Draht „nach oben“ haben oder sonst wohin, jedenfalls glaubhaft machen können, dass sie mehr wissen als andere, haben sofort Fans, mal abgesehen von dem Gefühl der Auszeichnung, das einen überkommt, wenn man Informationsträger eines geheimen Plans ist. So paradox es anmutet, Fans sind solche Informationsträger, obwohl sie ihr Wissen aus der Morgenzeitung haben.

 

Der Unterschied zu religiösen Konstruktionen besteht wieder lediglich in einem Punkt. Mormonen sind natürlich auch faszinierend, aber er gibt keinen Eingang zu ihrem System außer dem Beitritt zu ihrer Kirche. Zugang haben Gläubige, keine Fans. Inhalts- oder überzeugungsgelenkte Konstruktionen, wie zum Beispiel Religionen, haben keinen Spielraum für Projektionsaufladung. Ihre Form/Pose ist nicht leer. Hier ist nun entscheidend, wie die Rezeption einer Person wie Charles Manson auseinander fällt in eine ideologische, aufklärerische, quasi-religiöse, also inhaltsvolle Figur, welche aber ignoriert wird in ihrer speziellen Sorte, und andererseits in eine Popfigur, also die leere, zu Projektionen Anlass gebende Figur. Nur diese letztere erfreut sich regen Zuspruchs.

 

Im Falle von Charles Manson wird die elitäre Konstruktion vollkommen von der Popkonstruktion überdeckt, was sie verharmlost und obendrein extrem langlebig macht.

 

Drei weitere Beispiele, um die Komplexität des Phänomens der Überlagerung von elitärer und popkultureller Identifizierung aufzuzeigen:

 

Die Fälle von Frau Kampusch und jener österreichische Familie, die im Keller gehalten wurde, erzeugten zwar ein gewaltiges Medienecho, das aber niemals Pop werden wird, da die verbrecherischen Psychopathen, denen sie ausgeliefert waren, kein Interesse an einer medialen Verbreitung ihrer Handlungen haben. Weder zitieren jene die Beatles, noch verfechten sie einen aufklärerischen oder lebensreformerischen Anspruch. Sie sind lediglich dumpfe Sadisten, deren Konstruktion aufgeflogen ist. Sie sind genauso weit von Gott entfernt wie jeder andere. Hier gibt es also keine Fans, die sich mit ihrer Bewunderung an Personen wenden, die „etwas besser wissen“.

 

Auch Menschen wie der sogenannte UNA-Bomber haben es schwer, sich Gehör und Fans zu verschaffen, denn sie arbeiten zwar mit Bekennerschreiben, also mediengestützt, geben Programme und Manifeste bekannt, arbeiten aber völlig allein, legen also offenbar keinen gesteigerten Wert auf Jünger oder Fans und verprellen so jeden möglichen Bewunderer ihres elitär eingefärbten Terrors.

 

Das dritte Extrem ist die erfolgreich zu Ende geführte Verschwörung. Der Einsturz des World Trade Centers ist qua medialem Bannfluch ungeeignet zur Produktion von Fangemeinden. In diese erfolgreiche Verschwörung lässt sich außerdem nichts mehr hineinprojizieren. Die Message ist unmissverständlich. Sie ist angekommen und mitnichten krude.

 

Krude ist ein Charakteristikum, das auf viele nicht oder nur teilweise durchgeführte Verschwörungen zutrifft, auch auf die Überlegungen von Herrn Manson, wobei zu bedenken bleibt, dass das Eindosen und Etikettieren von Informationen für Print, Funk und Fernsehen große Unordnung in möglicherweise ursprünglich stringente Gedankengänge bringt.

 

Allein die nicht ausgeführte Aktion bietet den größten Interpretationsspielraum, für das große „Was wäre wenn“-Spiel. In dieser Sphäre gedeihen Fans am besten, denn sie scheren sich nicht um Argumente der moralischen Art, welche die Hochkultur zu besitzen behauptet. Stattdessen kreieren sie aus dem inhaltsleeren medialen Bericht eine Form, deren identifikatorische Sogwirkung dann später über Subkulturen zur moralischen Distinktion anleitet – denn unmoralisch ist Pop natürlich nicht, es geht überhaupt nicht ohne Moral, sie erscheint nur deutlicher selbst gebastelt, ohne das Siegel der Hochkultur.

 

Dies gilt grundsätzlich, schließt keines der Popphänomene aus und neigt, je gelangweilter eine Gesellschaft ist, umso deutlicher zur Bewunderung allerlei extremster Hirnknoten, aber wohlgemerkt, dies ist eine Bewunderung als Fan, nicht als Gläubiger. Diese Distanz ist angenehm, weil erst mal unideologisch, aber verzweifelt beliebig. Ein Zustand, der einen auf Menschen mit messianischen Qualitäten fasziniert starren lässt, da es einem völlig schleierhaft ist, mit welcher Beharrlichkeit eine Gedankenkonstruktion verfolgt wird, ohne allerdings Teil dieser Konstruktion werden zu wollen, sondern nur Teil einer Jugendbewegung zu sein.

 

So ist die Figur eines Schmerzensmanns immer auch die eines Menschen, der unter dem Missverständnis seines emanzipatorischen Programms leidet. Schon weil es eine sehr einsame Position ist, sich als „besser Wissender“ in einer Menge glotzäugiger, medial geführter Herden zu befinden. Das ist dann aber auch die einzige Gemeinsamkeit zwischen den beiden historischen Figuren Christus als Schmerzensmann und Charles Manson (als Man Son). Die eine führte bekanntlich zur Installierung einer Ideologie, die andere „Besserwisserei“ wurde bisher geflissentlich übergangen und wird bis auf Weiteres als Popphänomen und Zitat fortleben, was aber eben auch einen nicht unbeachtlichen Konservierungsaspekt hat.

 

Nora Sdun

 

MAN SON 1969. Vom Schrecken der Situation, Hamburger Kunsthalle, Galerie der Gegenwart, bis zum 26. April