1. März 2009

„Niemand wird Dich jemals lieben“

 

Den ehemaligen KGB-Agenten Leo Demidow holt in Tom Rob Smiths neuem Thriller „Kolyma“ die eigene Vergangenheit ein. Für den Traum, Vergebung für seine Untaten als Agent zu finden, geht er bis an die Grenzen des Menschlichen.

 

Leo Stepanowitsch Demidow leitet in Moskau eine Behörde, die es offiziell gar nicht geben darf. Er ist der Chef des landesweit einzigen Morddezernats, seit er als Agent des sowjetischen Geheimdienstes eine mysteriöse Mordserie aufgeklärt hat. Während seiner Ermittlungen um den Tod zahlreicher Kinder in ganz Russland geriet er selbst in das Visier des Geheimdienstes, da er mit der Verfolgung dieser Bluttaten zugleich das friedliche kommunistische Gesellschaftsbild infrage stellte. In einem einsamen Kampf gegen einen Serienkiller und den Geheimdienst gelang es Demidow, eine blutige Spur durch die gesamte Sowjetunion zu verfolgen und die Taten aufzuklären („Kind 44“). Seit seinem Ermittlungserfolg wider dem staatlichen Willen gehört er zu den weniger Schlimmen im stalinistischen Russland, obwohl er weiß, dass er als Agent zahlreiche Menschen denunziert, Väter und Mütter in den Gulag geschickt und ganze Familien zerstört hat. Auf Leo Stepanowitsch Demidows Gewissen lastet Schuld, die er als Kommissar nun abzutragen versucht.

Tom Rob Smith’s Folgethriller beginnt am Anfang aller Schuld, als Demidow das erste Mal zum Verräter wurde. Unter dem Decknamen „Maxim“ wurde er zu Beginn seiner Agentenkarriere in kirchliche Kreise geschleust, um einen Priester und dessen Frau dem Staat ans Messer zu liefern. Sieben Jahre später kommen einige der mit Demidows erstem Fall in Verbindung stehende Personen ums Leben, und mit jedem Toten rückt der Tod näher an Leo heran. Dieser hat eigentlich mit ganz anderen Sorgen zu kämpfen. Die älteste der beiden adoptierten Töchter verabscheut den Ex-Agenten zutiefst, da er ihre Eltern auf dem Gewissen hat. Des Nachts schleicht Sie sich heimlich mit einem Messer an sein Bett, doch ihr fehlt der Mut zuzustoßen. Ausgerechnet diese Tochter wird von Frajera, der Frau des einstmals denunzierten Priesters, entführt und soll nun für seine Untaten herhalten. Wenn Leo seine Tochter jemals lebend wiedersehen möchte, muss er den vor Jahren denunzierten Priester aus dem Arbeitslager befreien, so die Bedingung von Frajera. Ihr Mann Lazar, den Leo vor Jahren verriet, wurde damals zum Tod auf Raten in der Hölle des sowjetischen Gulag-Systems verurteilt. Lebenslänglich in Kolyma!

Die Kolyma-Region im Nordosten der Sowjetunion gibt dem zweiten Stalin-Thriller des 29-jährigen Briten seinen Namen. In den Gold- und Uranbergwerken dieses riesigen antarktischen Gulags kamen Zigtausende Menschen ums Leben. Ihre Leichen liegen noch heute konserviert unter dem meterdicken Eis Ostsibiriens. Das Leben in den Lagern Kolymas war nicht mehr als ein Würfelspiel des Schicksals. Unter den unmenschlichen Bedingungen der Schwerstarbeit war Kolyma nichts weiter als ein „darwinistischer Filter“, durch dessen Gitter die Schwachen sofort und die Starken nach und nach fielen. Hunderttausende mussten dem „Ruf des Nordens“ folgen, die wenigsten kamen zurück. In diese lebensfeindliche Region muss nun Demidow, um seine Schuld abzutragen und seinem Wunsch nach einem normalen Leben eine Chance zu geben. Allein unbemerkt in das Lager zu gelangen ist schon ein Selbstmordkommando. Mit einem Staatsfeind herauszukommen schier unmöglich. Dass seine entführte Tochter keineswegs als hilflose Geisel gefangen gehalten wird, sondern zu Frajeras Komplizin im Kampf gegen Leo wird, gibt dem Roman eine delikate Würze.

Tom Rob Smith war einer der Shootingstars des vergangenen Krimijahrs. Sein Debütroman „Kind 44“ schlug in den Literaturmarkt wie ein Meteorit ein. Der Taktschlag, den er diesem Wettlauf mit der Zeit vorgab, war atemberaubend schnell. Der erzählerische Rahmen in „Kind 44“ beklemmend realistisch. Die Story trug den Leser davon, riss ihn mit, beanspruchte all seine Emotionen – von Wut über Angst bis hin zu tiefer Trauer. Dieses Debüt setzt nun hohe Maßstäbe, an denen sich der nachfolgende Roman „Kolyma“ messen lassen muss. Und um eines vorwegzunehmen: Er reicht nicht heran!

Den historischen Rahmen von Smiths neuem Thriller bildet das Jahr 1956, als Chruschtschow auf dem XX. Parteitag der KPdSU seine Geheimrede hält und die kurze Phase der Entstalinisierung einleitet. Über das nachstalinistische Russland legte sich „Tauwetter“, wie es der russische Schriftsteller Ilja Ehrenburg nannte. Verfehlungen, Radikalismus und Personenkult wurden eingeräumt und sollten beseitigt werden, ohne jedoch den Staat und die Ideologie als solche infrage zu stellen. Die Eröffnung des Romans gelingt Smith diesmal nicht derart spielerisch, wie noch in „Kind 44“. Der Leser braucht seine Zeit, bis er in gewohnter Manier in den Roman eintaucht. Doch ist diese Hürde erst einmal genommen, profitiert der Leser erneut von der literarischen Allwissenheit und Empathie des Autors. Absolut glaubhaft schlüpft der Erzähler in die verschiedenen Rollen der Protagonisten des Romans, die zum Teil völlig konträre Empfindungen mit sich selbst und aneinander auszutragen haben. Vom kältesten Hass bis zur wärmenden Liebe – keine Regung unterschlägt der 29-Jährige, kein Symbol wiegt ihm zu schwer. Beispielhaft ist dabei das Wiedersehen zwischen Leo und dem verratenen Priester Lazar in einem vor Kraft und Symbolik vibrierenden Spannungsfeld: „Er [Leo] hatte Unrecht begangen, aber doch kein so gravierendes. Wenn er ein Schuft war, dann höchstens ein durchschnittlicher. Als er jetzt diesen Namen hörte, den Decknamen, den er sich selbst ausgesucht hatte, fing er an zu weinen. Er versuchte aufzuhören, aber es gelang ihm nicht, die Tränen strömten weiter über seine Wangen. Lazar streckte die Hand aus, berührte eine seiner Tränen und sammelte sie mit seiner Fingerkuppe auf. Er begutachtete sie eine Weile, dann setzte er sie wieder genau dort ab, wo er sie hergenommen hatte. Fest presste er seinen Finger gegen Leos Wange und zerrieb die Träne verächtlich, so als wollte er sagen: Behalt deine Tränen. Die zählen nicht.“

Die Art und Weise, in der Smith seinen Roman erzählt, zwingt den Leser immer wieder in die Beklemmung des Verständnisses, ja sogar der Sympathie für Leo Demidow, der doch mindestens ein „durchschnittlicher Schuft“ sein muss. Aber sein verzweifelter Kampf um sein Leben, gegen die Staatsfeinde und gegen den Staat zugleich, ist eben auch ein Kampf gegen die Bedrohung seiner Familie und ein Kampf um die Tochter und deren Liebe ist. Das macht ihn sympathisch. In Smiths Romanen gibt es nur Ganoven und skrupellose Staatsdiener, sodass seine Hauptperson nicht mehr, aber auch nicht weniger als ein lasterhafter Mensch unter den russischen Wölfen zu sein scheint.

Mit jeder Seite nimmt „Kolyma“ Fahrt auf und gewinnt schließlich wieder das Tempo des Erstlingswerks. Kaum scheint ein finaler Punkt erreicht und die Fatalität der Ereignisse unabwendbar, eröffnet sich ein neuer Weg, nur um erneut in einer Sackgasse zu enden. Dabei gerät Demidow wie schon in „Kind 44“ in die Mühlen des Systems und scheint Opfer einer Doktrin zu werden, für die er selbst lange Jahre spioniert und denunziert hat. Und zugleich klebt seine Vergangenheit wie Pech an seinen Fersen und entlässt ihn nicht aus diesem System. So entspinnt sich ein spannender Thriller vor den Augen des Lesers, in dem Leo wieder allein gegen alle kämpft, zwischen sämtlichen Fronten aufgerieben wird und dennoch nicht aufgibt.

Dieser hochklassige Thriller ist auf Seite 339 zu Ende, der Roman selbst schließt leider erst 130 Seiten später. Tom Rob Smith scheitert an einem literarischen Phänomen, dem nicht einmal alle großen Schriftsteller widerstehen konnten – der Sehnsucht nach einem Happy End. Nicht jeder hat die Kraft eines Johann Wolfgang von Goethe oder ist standhaft wie Thomas Mann, die mehr als einmal ihren tragenden Personen die Rettung auf Erlösung verweigerten und sie ins Elend stürzen ließen.

Manchmal ist es besser, die Faust’sche Tragödie geschehen zu lassen, als den Durst nach Seelenheil und Erlösung mit dem faden Beigeschmack eines schalen Bieres löschen zu wollen. Nichts anderes versucht Tom Rob Smith jedoch, indem er im letzten Viertel des Romans die Handlung nach Ungarn mitten in den antisowjetischen Aufstand hinein verlagert. Es ist nicht so, dass er hier seine historische Genauigkeit vernachlässigen würde. Es verhält sich auch nicht derart, als dass er den Leser nicht mehr in Atem halten würde. Nein, auch das gelingt ihm. Doch es wird auf jeder der verbleibenden 130 Seiten deutlich, dass sie allein dem Zweck dienen, eine Gnade herbeizuführen, die es weder unter Stalin noch danach in der Sowjetunion gegeben hat. Wer Orlando Figes kürzlich veröffentlichte Studie des „Lebens in Stalins Russland“ kennt, wer jemals Schalamow, Aitmatow, Solschenizyn oder Achmatowa gelesen hat, wird dem zustimmen. Schade, dass Smith sich selbst und dem Leser nicht die Katastrophe und die Sinnlosigkeit zumutet, in denen der Roman auf Seite 339 schwebt. Denn die dort geschilderte Situation der Verzweiflung entspricht viel eher den historisch-gesellschaftlichen Verhältnissen einer Sowjetunion unter den stalinistischen Nachwehen, als deren zwanghafte und unglaubwürdige Auflösung in einer lebbaren Realität. So enttäuscht Tom Rob Smiths Roman am Ende ebenso, wie er zuvor begeistert hat.

 

Thomas Hummitzsch

 

Tom Rob Smith: Kolyma. Aus dem Englischen von Armin Gontermann. DUMONT Literatur- und Kunst-Verlag. Köln 2009. 476 S. 19,95 €. ISBN: 3832180893.

 

Cohen+Dobernigg Buchhandel

 

amazon

 

www.textem.de/index.php