30. Oktober 2003

’68 mal anders

 

Einem Regisseur Untreue vorzuwerfen, ist nicht sehr sinnvoll. Dafür spielt das Geld eine zu große Rolle. Man wird auch älter, und gegen Entwicklung ist ja sowieso nichts einzuwenden. Zehn Jahre nach dem ersten Nouvelle-Vague-Film überhaupt ein Kammerspiel im gehobenen Bürgertum anzusiedeln und zum wie viel hundertsten Mal eine Dreiecksgeschichte aufzudecken ist also vielleicht nicht sehr einfallsreich, aber immerhin Klassizismus-verdächtig.

Dagegen spricht natürlich die Zeit, und 1968 so einen Film zu zeigen heißt bekennen, auf der falschen Seite zu stehen und der Reaktion die Hand zu reichen. Was wiederum sehr gut zur Haltung Chabrols passt, und somit ist alles in bester Ordnung. Chabrol überreicht den Fehdehandschuh, ohne dass man es merkt. Plötzlich ist die andere Seite begründungspflichtig. Die mit dem Geschlecht als Rhizom. Denn an Charles (Michel Bouquet) ist nicht viel auszusetzen. Nach elf Jahren Ehe ist das Bett keine Stätte ausufernder Lust. Man wird es ihm nicht übel nehmen, eine Sekretärin zu beschäftigen, die so sexy wie gehorsam ist, ohne dabei die Grenzen des Anstands zu überschreiten. Für letzteres ist sein Anwaltskollege zuständig. Und Hélène (Stéphane Audran), die in der Nähe von Versailles das Haus hütet und sich um den Sohn kümmert, darf schon mal in die Stadt, um sich ein bisschen von sich abzulenken. Kein Wunder, dass der Schriftsteller Pelaga (Maurice Ronet) sie im Kino „bereit“ findet. Das ist die normalste Sache von der Welt. Und dass sich daraus eine längere Affäre ergibt? Sehr plausibel.

Aber – wie soll man sagen: böserweise? – inszeniert Chabrol die zweite Liaison nicht als Gegensatz zur Ehe, sondern als Anhang, als vielleicht etwas entspannteres, aber zugleich müderes Areal, auf dem nicht weniger die Vorhersehbarkeit lastet, auch wenn sie Spaß macht. Der bloße Sex ist es also auch nicht. Explizit stellt Chabrol diese Frage auch gar nicht, das überlässt er hübsch anderen. Er weiß es auch nicht besser, aber er schaut genau hin, wie es meist nicht geht. Oder was plötzlich wieder entdeckt wird. Die Liebe. Charles bewahrt bravourös Fassung, der Besuch beim Schriftsteller ist großartig gespielt, von beiden Seiten, auf der einen Seite die durch eine kleine Lüge herausgelockte Ungezwungenheit und Zutraulichkeit, auf der anderen Seite die panische Lust, sich alles anschauen zu wollen, das Schlafzimmer, wo Charles das riesige Feuerzeug entdeckt, aber dann überkommt es ihn doch, alles zugleich, die Lebenslüge, der Verlust, die Offenheit des anderen, und dann erlaubt er sich einmal, für zwei Sekunden, einen Ausbruch, und schon ist der andere tot. Neuilly ist vielleicht ein Vorort, aber tagsüber eine Leiche, wenn auch eingepackt, ins Auto zu verfrachten, das ist schon sehr cool, auch die generöse Behandlung dessen, der eigentlich den anschließenden Autounfall verursachte. Aber wie viel mehr erst daheim, das Beobachten seiner Frau, wann sie anfängt, nervös zu werden, seine Genugtuung, dann die Unterstützung seiner Frau, als die Polizei anfängt, aufzutauchen, der Versuch der reinen Weste, das Ausmerzen eines Flecks, der nur zufällig aufgefangen wurde und ohne Problem entsorgt werden kann. Fast glaubt man es als Zuschauer, dieser vielleicht sogar gemeinsame Wille zu vergessen, die jetzt gefundene zweite Stufe der Reife, die das Sich-Versagen mit ins Lebensspiel hineinnimmt. Der Respekt vor dem Nicht-belästigt-werden-wollen von alten Geschichten und neuen Versuchungen.

Natürlich ist der Bürger ein Meister im Verdrängen, aber erstens wäre diese Leistung dann doch zu unmenschlich, und zweitens muss die Polizei in diesem Film ja auch was zu tun bekommen oder zumindest in ihren Handlungen zeigen, dass sie gearbeitet hat. Das Ende ist ganz groß. Die zwei Kommissare kommen wieder, der Sohn sieht sie als erster, Charles dreht sich zu seiner Frau, sieht sie fest an und sagt ihr jetzt, ohne gefragt zu werden, dass er sie liebt, dass er sie wahnsinnig liebt, und das glaubt man ihm aufs Wort und das ist eine Ohrfeige, aber sie ist immer noch unterwegs, anzukommen.

 

Dieter Wenk

 

<typohead type=2>Claude Chabrol, Die untreue Frau, F/I 1968</typohead>