9. Februar 2009

Lust und Liebe unterm Mikroskop

 

Über kaum ein Thema ist mehr geschrieben und wird weniger gewusst als über die Liebe. Kaum ein Schriftsteller, der nicht vom „größten aller Gefühle“ geschrieben hat oder zu schreiben beabsichtigt. Doch was nützen all die guten und schlechten, klugen und weniger klugen Bücher dieser Welt, die uns die Liebe, „eine so komplexe, so konkrete und doch so weittragende Erscheinung des täglichen Lebens“ nahe zu bringen suchen? Als ob der Querschnitt der individuellen Realitäten der Wirklichkeit nahe kommen würde. Und dennoch, wir lesen, ja verschlingen diese Bücher, zuweilen in der Hoffnung, klügere Antworten auf die großen Fragen zu finden, die wir uns nur unzureichend selbst beantworten können. Die Enttäuschung dabei ist mal größer, mal kleiner.

Auch ein kleines rotes Büchlein aus dem Hause Suhrkamp von einem wirklich großen seiner Zunft befasst sich mit dem inneren Brennen der Liebe. „Liebe. Eine Übung“, so lautet der schlichte Titel eines bisher ungedruckten Textes von Niklas Luhmann, einem der, wenn nicht dem wichtigsten und klügsten deutschen Soziologen Nachkriegsdeutschlands. Sein Liebesbuch „Liebe als Passion“ von 1982 ist weithin bekannt. Kaum verbreitet ist, dass dieser Ideengeschichte der Liebe etwa 13 Jahre zuvor der nun erstmals zugängliche Grundlagentext für eines seiner ersten Bielefelder Seminare vorausgegangen ist. Auch in diesem Skript wird seine Verehrung der Struktur deutlich, was aber nicht wirklich verwundert. Überraschend sind eher solche Formulierungen, die die Liebe ganz unsoziologisch, ungreifbar, ja unkonkret als „unbeherrschbar aufquellendes und wieder versiegendes Gefühl“ umschreiben. Derlei Sätze rütteln auf, kennt man den Luhmann’schen Kosmos der Struktursoziologie. Sie verstecken sich zwischen klugen und zugleich abschreckend trockenen Analysen. In diesen kann man dann unter anderem lernen, dass Liebe – man achte hier auf die Reihenfolge – „gewissen Dingen und Ereignissen, Personen und Kommunikationen eine besondere Überzeugungskraft“ verleiht, „als Passion die gesellschaftliche Ausdifferenzierung von Intimbeziehungen“ institutionalisiert und „romantisch übersteigert“ Familien eher zerstört als befördert. Zu viel Romantik schadet also der Liebe – was erschreckend klingt, begründet Luhmann ganz sachlich und stringent. Wer Luhmanns Schriften kennt, erkennt seinen nüchternen soziologischen Duktus sofort wieder, der zuweilen etwas frostig klingen mag. Aber bei einem derart heiß gehandelten Thema kann etwas sachliche Abkühlung nicht schaden.

Ganz anders als Luhmanns nüchterne soziologische Analyse der Liebe ist die geistesgeschichtliche Auseinandersetzung des Philosophieprofessors Simon Blackburn mit der schönsten aller Todsünden, der Wollust. Der im Wagenbach-Verlag erschienene Band ist ebenso wie Luhmanns Seminarskript ein Dokument der akademischen Tätigkeit seines Autors. Als Vortrag konzipiert zeichnet Blackburn darin die philosophische und zeitgeschichtliche Auseinandersetzung mit der Lust und der Begierde nach, wie es vor ihm noch keiner getan hat. Im Zentrum steht dabei die simple und doch kompliziert zu beantwortende Frage: „Kann Kopulation Sünde sein?“ Wie schon in „Gut sein. Eine kurze Einführung in die Ethik“ und „Wahrheit. Ein Wegweiser für Skeptiker“ wählte der Professor aus Cambridge ein an Ethik und Moral angelehntes Sujet, welches er hochintelligent, geistreich und gekonnt in seine historischen und aktuellen Bezüge einordnet und analysiert.

Für den philosophisch-literaturwissenschaftlich kunst- und gesellschaftskritischen Essay in 17 Akten bildeten die Zeugnisse aus Literatur und Kunst sowie deren Rezeption die materiellen Vorlagen für seine Erörterungen. Von Platon und dem Kirchenvater Augustinus von Hippo über Shakespeare und Hobbes bis Oscar Wilde und Bertrand Russell; von Tizian über Boticelli und Toulouse-Lautrec zu Mick Jagger; von der chinesischen Han-Dynastie über die griechische Antike und das Mittelalter bis zur Hochmoderne der Fortpflanzungsgenetik – Blackburn spielt auf der gesamten geistesgeschichtlichen Klaviatur des sexuellen Verlangens. Wenn er anfangs einschränkt, unmöglich das „Panorama der menschlichen Wollust und des Umgangs der Menschen mit ihr […] in einem kleinen Essay wie diesem hier“ einfangen zu können, so kann man dies als professorales Understatement auffassen und schnell wieder vergessen. Denn natürlich musste Blackburn vieles von dem auslassen, was jemals über die Wollust geschrieben und gemalt wurde und was er sicher weiß. Aber eben weil er diese Kenntnis besitzt und seine Auswahl trifft, präsentiert er dem Leser mit seinem klugen Text eine aus der Geschichte gewonnene, geradezu heilige Essenz der fünften Todsünde. Eine Auslese der schönsten und wertvollsten Trauben, deren Saft nach fleischlichem Verlangen schmeckt.

Blackburn macht dabei deutlich, welche Entwicklung die Auseinandersetzung des Menschen mit der Wollust vollzogen hat. Den Idealzustand der Wollust sieht er in einem Verhältnis, das er als Hobbes’sche Einheit bezeichnet, in der es nicht nur zur körperlichen Befriedigung kommt, sondern zugleich eine geistige Erfüllung durch die Freude am Erfreuen an dem Vergnügen des anderen eintritt. „Wollust ist hier wie gemeinsames Musizieren, wie eine harmonische Symphonie aus Freude und entsprechender Reaktion.“ Blackburn zeigt in seinem Essay, wie weit sich der Mensch durch seinen Umgang mit den eigensten Bedürfnissen und Verlangen von diesem Idealzustand entfernt hat und warum er sich immer wieder selbst dabei im Weg steht. Er macht deutlich, warum Keuschheit lange Zeit Hochkonjunktur hatte und aus welchem Grund sexuelles Verlangen immer wieder als „schändlich“ angesehen wurde. Und warum der Umgang mit Sexualität in der postmodernen Gesellschaft aller Aufklärung zum Trotz immer wieder ein ambivalenter Tanz um die gesellschaftliche Schamgrenze ist. Doch zugleich findet Blackburn kluge Worte, um zu zeigen, dass die Wollust die „schönste“ aller Sünden ist. Dabei lesen sich Blackburns Ausführungen wie eine lang ersehnte Vorlesung, die nicht zu Ende gehen soll, denn sie sind nicht nur voller Gehalt und Tiefe, sondern erstaunen in ihrer Leichtigkeit und ihrem Schwung.

So verschieden „Liebe. Eine Übung“ und „Wollust. Die schönste Todsünde“ angelegt sind, sie haben beide eines gemeinsam. Sie nähern sich intelligent ihrem jeweiligen Sujet, von dem ein jeder zu meinen glaubt, es zu kennen, bei der Lektüre sich jedoch eingestehen muss, dass er sich in seinem Glauben getäuscht hat.

Dabei können die Dinge so einfach sein, wie Blackburn mit seinem letzten Satz deutlich macht: „Wenn alles im Lot ist, verlangen wir von anderen Menschen nur Dinge, die sie auch gerne zu geben bereit sind.“ Ein Satz, so einfach wie das Amen in der Kirche. Und doch geht uns eine solche Feststellung immer wieder abhanden, egal ob im Kontext der Wollust oder in Fragen der Liebe.

 

Thomas Hummitzsch

 

Niklas Luhmann: Liebe. Eine Übung. Suhrkamp-Verlag. Frankfurt/Main 2008. 94 S. 8,00 €. ISBN: 3518585045

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Simon Blackburn: Wollust. Die schönste Todsünde. Aus dem Englischen von Matthias Wolf. Verlag Wagenbach. Berlin 2008. 141 S. 10,90 €. ISBN: 3803126010

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