Filmfestivals und Politik
Im Umgang der Presse mit dem Kino haben sich feste Rituale etabliert. Rechtzeitig bevor die neuen Filme am Donnerstag anlaufen, finden sich die Rezensionen in den entsprechenden Medien: Im Radio am Mittwoch, in den Tageszeitungen am Donnerstag. Dieses Metronom lenkt die Aufmerksamkeit auf Blockbuster, preisgekrönte oder umstrittene Filme, die mehr Raum für sich beanspruchen dürfen, damit jeder mitreden kann. Über das wöchentliche Schema gleitet allerdings ein jährlicher Kalender mit festen Terminen, der als höhere Ordnung das Gewicht der Berichterstattung maßgeblich beeinflusst: die Abfolge der Filmfestivals der Kategorie A, um die sich das Geschehen in der Branche staffelt und mögliche Nischen besetzt. Denn täglich finden irgendwo auf dem Globus Filmfestivals statt: Für das Jahr 2005 hat Marijke de Valck die stattliche Anzahl von 1200 bis 1900 ermittelt, die ja auch besucht werden wollen.
Dabei ist ein Filmfestival mehr als die Summe der präsentierten Filme, die in rascher Folge an einem Ort gezeigt werden, wesentlich mehr. Mächtige Interessen, ästhetische Urteile, wirtschaftliche Überlegungen, eine gehörige Portion Eitelkeit und individuelle Vorlieben suchen vor der öffentlichen Kulisse ein Forum, schreiben sich in eine bewegte Geschichte mit Brüchen und Aufständen ein, die eine eigene Dynamik gewonnen hat. De Valck rekonstruiert die Ansätze, indem sie drei A-Festivals (Berlinale, Venedig und Cannes) und das Internationale Filmfestival in Rotterdam analysiert. Dabei filtert sie nicht nur den historischen Verlauf heraus, vielmehr beobachtet sie einzelne konkrete und abstrakte Akteure (wie z. B. ästhetische Konzepte) anhand der Actor-Network-Theory (ANT) des Anthropologen und Philosophen Bruno Latour. In ihrer auf Englisch verfassten Monografie greift sie die Konnotation des Lexems ‚ant‘ (Ameise) auf, wenn sie die beharrliche Existenz der Filmfestivals mit der rhizomatischen Struktur eines Ameisenhügels vergleicht, der nach einem Angriff von den staatenbildenden Insekten ohne Verzug wiederaufgebaut wird. Dadurch wird klar, dass die Festivals einem ständigen Prozess unterworfen sind, dem sie sich durch Wandel stellen müssen.
In der Exposition ihres Stoffes verweist sie auf den ursprünglichen Konflikt, in dem Europa und die USA um die Hegemonie auf der Leinwand rangen. Die Stummfilmära wurde von europäischen Nationen (Deutschland, Schweden, Frankreich, Italien) geprägt, was sich mit der Einführung des Tons änderte, denn wegen der innereuropäischen Sprachgrenzen der jeweiligen Vertriebsgebiete mussten Filme plötzlich teuer in mehreren Fassungen gedreht werden. Dem sich etablierenden Erzählkino aus Hollywood begegnete Europa mit einer modernen Ästhetik der Avantgarde, die jedoch extrem zersplittert war. Am Neujahrstag 1898 fand das erste Filmfestival in Monaco statt, später gab es Festivals in Turin, Mailand, Palermo, Hamburg und Prag. Die erste Preisverleihung fand 1907 nach einem Wettbewerb statt, den die Gebrüder Lumière organisiert hatten.
Die Epoche der regulären Festivals begann am 6. August 1932 im venezianischen Hotel Excelsior mit Rouben Mamoulians „Dr. Jekyll and Mr. Hyde“. Ursprünglich lediglich der kinematografische Teil der 1885 gegründeten Kunstbiennale, emanzipierte sich dieses Medium ab 1935, indem es fortan jährlich veranstaltet wurde. Die internationale Filmgemeinde feierte sich enthusiastisch, aber auch das faschistische Italien unter Benito Mussolini erkannte die Möglichkeiten, sich durch Galas und Preise eine politische Bühne zu schaffen. Die vermeintlich unpolitische Atmosphäre heizte sich in den folgenden Jahren auf, denn 1936 erschien Joseph Goebbels als Ehrengast, und 1938 wurde der große Preis zu gleichen Teil an Leni Riefenstahls „Olympia“ sowie an einen italienischen Film vergeben, den Mussolinis Sohn Vittorio produziert hatte. Damit war der Fehdehandschuh geworfen. Auf der Rückfahrt nach Paris unterhielt sich der Kritiker René Jeanne im Zug mit Philippe Erlanger, einem Staatsbeamten und zukünftigen Historiker, die sich beide darin einig waren, dass ein echtes Filmfestival mehr sein müsse als Propaganda für Diktatoren. Der politische Apparat kam in Bewegung, Diplomaten setzten sich mit ihren britischen und amerikanischen Kollegen an einen Tisch, während eine ähnliche Kulisse gesucht wurde: ein großbürgerlicher Badeort. Die Premiere des demokratischen Gegenfestivals wurde für den Zeitraum vom 1. bis zum 20. September angekündigt – fand aber nicht statt. Einer der Diktatoren, Hitler, hatte Polen überfallen. Zwar wurde noch „The Hunchback of Notre Dame“ gezeigt, doch die Generalmobilmachung in Frankreich führte zum Abbruch des Festivals. Die Preise des ersten regulären Filmfestivals von Cannes 1946 bedeuteten eine Absage an die faschistischen Regime, allen voran die Goldene Palme für Roberto Rosselinis „Roma, Città Aperta“.
Die Berlinale (seit 1951) in den drei Westsektoren des geteilten Berlin war ein Produkt des Kalten Krieges, ein buntes und glamouröses Schaufenster des Kapitalismus, mit dem das kommunistische Ostberlin und die Sowjetunion gedemütigt werden sollten. Der politische Gegner zog mit eignen Festivals nach, bis der Verband der Filmproduzenten kalte Füße wegen der Inflation bekam. Die nationalen Konkurrenzen wurden zwar anerkannt, eine ungeliebte hierarchische Klassifikation bildete aber einen lauen Kompromiss. Auf diese Weise entstand ein Festivalkalender mit einer Besonderheit: Der Osten durfte nur ein A-Festival pro Jahr veranstalten, weshalb die Veranstaltungen in Moskau und im (damals) tschechoslowakischen Karlovy Vary (Karlsbad) im Wechsel stattfanden, um die begehrte Aufwertung nicht zu verlieren.
In den 1960er Jahren empfanden die teilnehmenden Künstler ihre Einbindung in die nationale Repräsentation zunehmend als Einengung und Eingriff in ihre Rechte. Sie rebellierten 1968 in Cannes und Venedig, 1970 in Berlin und drohten, alternative Festivals durchzuführen. Die angegriffenen Institutionen wehrten sich gegen die aggressiven Herausforderer, indem sie ihre Konzepte als parallel veranstaltete Reihen in ihre Festivals einbanden: Die Quinzaine des Réalisateurs seit 1969 in Cannes, das Forum des Jungen Films seit 1971 in Berlin und Giornate del Cinema Italiano in Venedig. Zur selben Zeit wandeln sich Kolonien in unabhängige Staaten, und mit der Entspannungspolitik am Ende der Dekade nähern sich die beiden Machtblöcke an. Filme aus der Peripherie, vor allem aus Afrika, werden auf diese Weise für das Exil produziert, während sie im eigenen Land nur selten Publikum finden. Der Aufstieg der Filmfestivals im südkoreanischen Pusan und von Sundance in Park City, Utah, zeigt die Flexibilität der Institution im globalen Wettbewerb.
Der Status des Mediums Film und damit auch der Festivals wandelte sich durch die jeweils neuen Konkurrenten Fernsehen, Video und dessen technologische Varianten (DVD, Blu-Ray) sowie das Internet. Gerade weil das Buhlen um das größtenteils touristische Publikum schwieriger wurde, wurden die Festivals zu einem Teil der Eventkultur, für deren politische Rechtfertigung gastronomische Kennziffern und Übernachtungen im Städtemarketing ebenso wichtig waren wie ein populäres Profil. Nach und nach bildet sich ein internationales Netzwerk mit vielfältigen Akteuren heraus, die sich teilweise als Feinde inszenieren wie unabhängiges Kunstkino und Hollywood oder Ästheten und Journalisten, obwohl sie gegenseitig aufeinander angewiesen sind. Sozial haben sich die Festivals in ein komplexes Gefüge fein abgestimmter Rollen ausgefächert, die durch segregierte Räume und Zeiten meist kaum miteinander in Berührung geraten. Für die Berlinale hat de Valck nämlich 52 Akkreditierungen ermittelt, während die räumliche Trennung der Parallelgesellschaften in Venedig am augenfälligsten ist. Die Fixierung der Stadt Cannes auf das prestigeträchtige Festival sorgt zwar einmal im Jahr für Glanz und Gloria, die hohen Grundstückspreise und Mieten erschweren jedoch den Einheimischen das Leben, zumal sie außerhalb der Branchen Tourismus, Gastronomie und Film kaum Perspektiven haben.
Britta Madeleine Woitschig
Marijke de Valck: Film Festivals. From European Geopolitics to Global Cinephilia (Film Culture in Transition), Amsterdam: Amsterdam University Press 2007, 276 Seiten, ISBN 978-90-5356-192-8 (Paperback), ISBN 978-90-5356-216-1 (Hardcover)