3. Februar 2009

„Narrheit unser, die Du bist im Himmel“

 

Wird er ihn in diesem Jahr bekommen, den Literaturnobelpreis? Würde man behaupten, dass er seit Jahren zu den Topfavoriten gehört, wäre das untertrieben, denn Philip Roth wird von seiner Zunft seit Jahren verdientermaßen als der heißeste Anwärter auf den schwedischen Literaturpreis gehandelt. Seinen 75 Jahren zum Trotz schreibt Roth immer weiter und scheint nicht schweigen zu wollen – zum Glück. „Das Problem beim Schreiben ist nicht, dass einer mit dem Alter sein Talent verliert oder seinen Intellekt oder seinen Witz“, gestand Roth dem Spiegel-Literaturredakteur Volker Hage einst. Das Schreiben werde allerdings mühsam, führt Roth aus, wenn man am Ende des Romans nachlesen müsse, was am Anfang passiert.

Nun, so weit scheint es noch nicht gekommen und Roths Erinnerungsvermögen am Ende seiner Romane noch recht gut. Der Amerikaner provoziert weiter und erspart seiner Gesellschaft nicht den Spiegel, den er ihr mit jedem seiner Romane vorhält. Trotz unzähliger Preise steigert er sich weiter, von Buch zu Buch schreibt er sich immer konzentrierter, verdichteter und intensiver an den Sujets ab, die er seinen Romanen vorgibt. Man ist geneigt, seine Literatur als vollkommen zu bezeichnen, allein der Nobelpreis fehlt noch zur Vollendung seines Schaffens. In den vergangenen Jahren konnte man den Eindruck gewinnen, er wolle der Akademie mit seinen Romanen um Krankheit, Alter und Sterben geradezu drohend zurufen, dass man ihn bald berücksichtigen müsse, wenn er zur Preisverleihung noch persönlich erscheinen solle. So trug er in seinem letzten Roman „Exit Ghost“ sein persönliches Lebenswerk zu Grabe und entließ sein literarisches Alter Ego Nathan Zuckermann nach neun Romanen elendig sterbend aus der Pflicht. Die Verbitterung über die eigene Begrenztheit trieb Zuckermann schließlich in den Sarg. Die letzte Aufbahrung war auch Ausgangspunkt des Vorgängerromans „Jedermann“, in dem Roth die Lebensgeschichte seiner bereits dahingeschiedenen, anonymen Hauptperson als eine Aneinanderkettung von Krankheiten und Malaisen beschreibt; eine Ode an das Leben.

In seinem neuen Roman „Empörung“ spielt der Tod ebenfalls eine zentrale Rolle, auch wenn dies der Auftakt nicht erwarten lässt. Vor dem historischen Hintergrund des Koreakriegs von 1950 bis 1953 blickt darin der 19-jährige Marcus (Markie) Messner auf die letzten Wochen und Monate seines Lebens zurück. Der Leser bekommt so zunächst die scheinbar harmlose Welt des Marcus Messner präsentiert, der ein kleines College in seiner Heimatstadt Newark/New Jersey besucht und in seinen freien Stunden in der väterlichen Metzgerei aushilft.

Die blutige Atmosphäre der Metzgerei des Vaters ist das Leitmotiv des Romans, in das der Junge – wenn auch unfreiwillig – hineingeboren wurde. Bis zu den Knöcheln stand Markie im Blut, wenn der stolze Vater ihm mit der größten Ruhe und Geduld das Schlachten, Ausnehmen und Zerteilen beibrachte. Nur eines lernt er dabei nicht: das Blut zu mögen. „Ich war mit Blut aufgewachsen“, erzählt der junge Mann rückblickend, doch „ich hatte mich nie daran gewöhnt und es niemals gemocht.“

Schon auf den ersten Seiten wird klar, dass Marcus Messner ein überaus intelligenter und begabter Junge ist, dem alle Türen zur Welt offen stehen. Vom kalkulierenden Präsidenten bis zum künstlerischen Bohemien, alles scheint möglich. Doch seit er auf das College geht, umtreibt den Vater ein unerklärlicher Argwohn, eine panische Manie um die Unversehrtheit des einzigen Sohnes. Die ständige Angst, der Sohn könnte aufgrund irgendeines fehlerhaften Verhaltens auffallen, einberufen werden und als Bajonettfutter für die Kommunisten in Korea enden, macht den Vater krank, raubt ihm den Schlaf. Und Marcus schließlich die Nerven, denn unter der permanenten Überwachung seines Vaters kann und will er nicht studieren. Er beschließt, auf das, eine Tagesreise entfernt gelegene Winesburg-College zu wechseln. Eine konservative Kaderschmiede. Dort verlebt er turbulente erste Wochen, in denen er auf Ignoranz und Missgunst stößt. Einzig die beginnende Romanze mit der jungen Studentin Olivia Hutton hellt seine Tage auf. Doch wo Licht ist, muss auch Schatten sein, und mit dem Auftauchen der jungen Studentin legt sich das größtmögliche Dunkel über den Roman. In dem Moment der Schilderung der ersten sexuellen Kontaktaufnahme, als sich Markie „veranlasst sah, ihre Hand zu nehmen und behutsam auf den Schritt meiner Hose zu legen“, schockiert Roth mit der tragischen Wendung des Romans.

„Körperlos in dieser Grotte der Erinnerung, erzähle ich mir rund um die Uhr in einer uhrenlosen Welt immer wieder meine eigene Geschichte und habe dabei das Gefühl, dies schon seit Millionen Jahren zu tun. Soll das wirklich immer so weitergehen – in Ewigkeit meine mickrigen neunzehn Jahre, während alles andere abwesend ist, meine mickrigen neunzehn Jahre unentrinnbar hier, permanent gegenwärtig, während alles, was diese neunzehn Jahre real gemacht hat, während alles, was einen mitten dort hineingestellt hat, ein unerreichbar fernes Trugbild bleibt?“ Mit nur wenigen Zeilen gelingt es Roth, die Illusion des Lesers aufzulösen und ihm die tiefgründige Tragödie seines Romans zu offenbaren. Mit Marcus Messner blickt kein Präsident oder Künstler auf seine Studienzeit zurück, sondern ein toter US-Soldat, der einsam in der unendlichen Schleife seiner Erinnerungen feststeckt.

Spätestens hier wird wieder einmal deutlich, dass Philip Roth nicht nur einfach ein Schriftsteller ist. Er ist zugleich Musiker, Maler, Architekt und Analytiker in einer Person. Seine Romane sind voller Melodien und Farben, Struktur und Tiefgang. In ihnen spiegelt sich sein kongeniales Sprachgefühl, mit dem er selbst den Erzählungen der Toten noch einmal Leben einhaucht. Roth erzählt nicht einfach aus einem Leben, er erzählt vom Leben als solchem in all seiner Gewöhnlichkeit und Absurdität. Keinem gelingt es derart selbstverständlich, ja geradezu beiläufig, seinen Lesern den Spiegel vorzuhalten, ohne ihn damit zu brüskieren oder zu verletzen.

Mit „Empörung“ setzt Roth dem Abgesang auf Alter und Vergänglichkeit kein Ende, sondern vielmehr die Krone auf. Er geht noch einen Schritt weiter als in den beiden thematischen Vorläufern der vergangenen Jahre und lässt nun seinen Protagonisten aus einem Nichts heraus in ein weiteres Nichts hinein sprechen. Das „Reich ewiger Erinnerung“, aus dem Marcus Messner zu uns Lesern spricht, ist in diesem Fall das Korea der 50er Jahre, könnte aber ebenso gut Irak oder Afghanistan sein. Messners Worte erreichen uns und doch wieder nicht. Wir wissen von all dem und wollen es doch nicht wahrhaben. War „Jedermann“ in all seiner Ausrichtung auf den Tod dennoch eine Ode an die Freude des Lebens, ist „Empörung“ eine wirkliche Epode auf ein unerfüllt gebliebenes Leben.

In seinen letzten Monaten in Winesbury eckt Messner an, wo es nur möglich und unmöglich ist. Kein Konflikt geht an ihm vorbei, keine Auseinandersetzung, die er abschließend klären könnte. Dem väterlichen Terror entflohen sieht er sich nun dem Terror der liberalen Freiheit ausgesetzt, die alles toleriert und nichts erlaubt. Eine Freiheit, wie sie Thomas Jefferson kaum im Sinn hatte. Dies regt Marcus auf, weckt den Rebell in ihm, lässt seine Vernunft zur Empörung wachsen. „Steht auf! Ihr, die ihr nicht Sklaven sein wollt“, schmetterten einst die chinesischen Alliierten im Zweiten Weltkrieg den japanischen Faschisten entgegen. Ausgerechnet die Chinesen, die nun reihenweise amerikanische Soldaten in Korea metzeln, legen Marcus die Worte in den Mund, die ihn antreiben. „Empörung füllt die Herzen unserer Landsleute. Steht auf! Steht auf! Steht auf!“ Und dies tut er. Er steht auf, wo er Ignoranz, Unwissen und Vorurteil als Triebfeder menschlichen Verhaltens wittert, duldet dies nicht, setzt sich dem nicht aus.

Es ist die Auseinandersetzung um die große Frage, wie viel Freiheit in einer demokratisch-liberalen Gesellschaft möglich ist, die Roths neuen Roman prägt. Die Kommunisten der McCarthy-Ära heißen heute Terroristen und sind nach öffentlichem Duktus nicht minder bedrohlich. Leben ist also auch immer an Ordnung und Gefolgschaft gebunden, um die Bedrohung möglichst gering zu halten. Die Fragen an das System bleiben daher dieselben: Wieso ist ein Leben nach dem Gesetz nicht gleichbedeutend mit einem gesellschaftskonformen Leben? Warum stoßen wir an Grenzen unserer Handlungsfreiheit, wenn wir doch gegen keinen Paragrafen verstoßen? Marcus Messner würde wohl antworten, weil wir in einer verlogenen Gesellschaft leben, die sich an Werte und Traditionen krallt, als wären dies in Blei gegossene Regeln. Es ist eine geradezu religiöse Angst vor der Welt und dem Leben, die unsere modernen Gesellschaften in der festen Umklammerung des Gehorsams hält. Es bleibt nur die innere Rebellion, die Empörung über eine solche Welt, die die Illusion an ein alternatives Leben wachhält. In einer energischen Auseinandersetzung um die Gepflogenheiten auf dem College setzt Marcus dem Dean des Colleges die Ansichten Bertrand Russels auseinander, die er in dem Satz kulminieren lässt: „Wir sollten die Welt mit Intelligenz erobern … und uns nicht nur sklavisch von dem Schrecken, der durch das Leben in der Welt erzeugt wird, unterdrücken lassen.“

Philip Roth gelingt es wie keinem Zweiten, die Zeichen der Zeit in den Anzeichen der Geschichte erkennbar zu machen. Immer wieder lässt er seine Romane vor einer historischen Kulisse ablaufen, um aus der Gewissheit der Erfahrung umso eindringlicher auf das Hier und Jetzt anzuspielen. Es sind dabei oft die kleinen Dramen seiner Hauptfiguren, die uns die Tragödien unserer Zeit bewusst machen – sei es der blinde Moralismus der Gegenwart („Der menschliche Makel“), die Fragilität des amerikanischen Traums („Amerikanisches Idyll“, „Verschwörung gegen Amerika“) oder die Verletzlichkeit des Einzelnen im Lichte der Öffentlichkeit („Mein Mann, der Kommunist“). Und zugleich verharren seine Romane nicht in der ihm eigenen, geradezu tiefenpsychologischen Gesellschaftskritik, sondern schlagen immer wieder die Brücke auf die humorige Seite des Lebens. Roth beherrscht in singulärer Art und Weise die Kunst, neben den Dramen des Lebens die Freuden und Leichtigkeiten blühen zu lassen, ohne dass der Leser das Gefühl bekommt, ihm würde eine Welt vorgegaukelt. Vielmehr gibt diese Nähe von Lust und Leid seinen Romanen die besondere Authentizität, die darin eintauchen und versinken lassen, als wäre es die eigene Geschichte. Es ist das persönliche Drama und Glück des Lesers, dass es eben nicht die seine ist.

 

Thomas Hummitzsch

 

Philip Roth: Empörung, Roman, 208 S., 17,90 €, Hanser-Verlag 2009, ISBN: 3446232788

 

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