Eine Gebrauchsanweisung für Comics
So lautet die korrekte Übersetzung des vorliegenden Titels. Aber wer braucht so einen Band? Die einen kennen sich in der Materie aus (zumindest glauben sie es) und könnten von einer Einführung für Anfänger abgeschreckt werden; die anderen nehmen Comics sowieso nicht ernst, obwohl sie sich wahrscheinlich mit diesem oder jenem Werk vergnügt haben – aber sich deshalb von den eigenen Vorurteilen verabschieden? Außerdem nehme ich an, dass sich zumindest im frankobelgischen Raum gewisse Vorurteile gegenüber derartiger Sekundärliteratur eingebürgert haben. Entweder ist das fast unlesbares Zeug, das ohne mehrere Semester geisteswissenschaftlicher Sprachspiele kaum verständlich ist und nur Kopfschmerzen bereitet; oder es sind Hagiografien von begeisterten Fans, die beckmessernd Erbsen zählen und sich vor ihren Idolen zu Boden werfen. Dass sich solche Vorurteile entwickeln konnten – daran ist der Urheber der Gebrauchsanweisung leider nicht ganz unschuldig.
Dabei ist Thierry Groensteen in Fachkreisen eine anerkannte internationale Koryphäe, der vermutlich wie kaum ein anderer Einblick in sämtliche Bereiche des Mediums erhalten hat. Wie wohl die meisten fing er als Fan an, indem er für die inzwischen legendäre Reihe „Cahiers de la bande dessinée“ Beiträge verfasste, bis er von 1984 bis 1988 die Position des Chefredakteurs der Zeitschrift innehatte. Als Schüler von Roland Barthes hat er sich analytisches und philosophisches Werkzeug zugelegt und auf den Feldern der Comics, des Films (u.a. über Hitchcock) und der Übersetzung virtuos angewandt. Besonders seine ersten Standardwerke wie die semiologische Analyse der Bande Dessinée, „Système de la bande dessinée“, verlangten einiges an Schweiß und Tränen, um den vertrackten Code seines elaborierten Vokabulars zu knacken. Dennoch muss es ihm gelungen sein, bei wichtigen Leuten in der französischen Kulturpolitik einen nachhaltigen Eindruck zu hinterlassen, da er derjenige war, der in der Ägide von Francois Mitterrand und seinem Adlatus Jack Lang (dessen Kultusminister) in dem beschaulichen Städtchen Angouleme ein nationales Comicmuseum errichtete. Von 1993 bis 2001 verantwortete er für das Centre Nationale de la Bande Dessinée et de l’Image (C.N.B.D.I.) zahlreiche Ausstellungen, darunter eine über die Meister der europäischen Comics in der Nationalbibliothek in Paris. Außerdem gibt der umtriebige Herr sein jährlich erscheinendes Fachmagazin „Neuvième Art“ heraus, fünf Jahre lang in seinem eigenen Verlag „Editions de l’An 2“, der nach dem Konkurs 2007 dem Buchverlag Actes Sud angegliedert wurde – Groensteen leitet dort dieses Label weiterhin. Zu den Gründern des Brüsseler Kleinverlags Les Impressions Nouvelles, aus dem dieser Band stammt, zählt er ebenfalls. Bücher und wissenschaftliche Anthologien publiziert er so fleißig wie hierzulande nur Georg Seeßlen; auf relevanten Tagungen und Kongressen redet er gehörig mit, und nur wenige dürften mehr Ateliers und Studios besucht haben, in denen sequentielle Kunst entsteht. Seine Erfahrungen und Privilegien werden intelligent reflektiert, denn er erweitert gern seinen Horizont, sogar wenn er dafür vermeintliche Erkenntnisse revidieren muss. Während er auch mit sich selbst hart ins Gericht gehen kann, fördert er nach Kräften, was ihm wegweisend für das Medium erscheint. Niemand dürfte wegen seiner intimen Kenntnisse besser dazu befähigt sein, Neugierige an das Thema heranzuführen als Thierry Groensteen.
„Zeichne einen Kasten auf ein Blatt Papier. Male da eine Figur, ein Objekt, eine Landschaft hinein. Zeichne einen anderen Kasten neben den ersten. Wiederhole das schon benutzte Motiv, aber mit einer Variante: die Figur in einer anderen Haltung, das Objekt an einer anderen Stelle; die Landschaft in einem anderen Licht zeigt, dass der Tag fortschreitet. Voilà: Schon haben Sie einen Comic gezeichnet. Prinzipiell gibt es nichts Einfacheres als diese Kunst, in der sich wirklich jeder versuchen kann.“ (Seite 7)
Mit dieser Einladung zum Selbstversuch verführt er sein Publikum, um es in den folgenden sechs Kapiteln in die Regeln des Mediums einzuweihen, von den scheinbar selbstverständlichen Allgemeinplätzen bis zur hohen Schule der Experten. Jedes der farbig markierten Kapitel wird wie auf dem Titelbild von Marc-Antoine Mathieu durch eine der gefüllten Kammern symbolisiert und teilt sich wegen der Übersichtlichkeit (bis auf eine Ausnahme) in zwei bis fünf kleine Abschnitte, denen er jeweils drei Fragen voranstellt (ähnlich wie Andreas C. Knigge in seinen „101 Fragen“). Ein Glossar, zwei Indizes und eine Bibliografie runden das Programm zu einem Handbuch ab, in dem sich gesuchte Details rasch finden lassen. Sein Sprachniveau hat er dabei so weit wie möglich der Umgangssprache angepasst, sodass sich diese Einführung, die dennoch keine inhaltlichen Zugeständnisse macht oder sich Schlampereien erlaubt, für die Lektüre in der Oberstufe oder im Grundstudium eignet. Falls sich Multiplikatoren wie Pädagogen oder Museumsleute in das ihnen unbekannte Thema einarbeiten wollen, liefert ihnen Groensteen bei jedem neuem Fachbegriff eine prägnante Definition. Dabei nutzt er ein breites Spektrum von Beispielen: von Herriman bis Crumb, von Alain Saint-Ogan bis Dominique Goblet, von Chris Ware bis Pierre La Police, die exzellent reproduziert sind, manchmal allerdings ziemlich klein. Seine umfangreichen Exegesen (close reading) verleiten zum Vergleich des Gelesenen mit dem Sichtbaren.
Wem seine Gedankengänge vertraut sind (vielleicht von seiner umfangreichen Homepage), der wird bekannte Einstellungen entdecken, ohne sich jedoch zu langweilen. Denn hier bringt er für jede seiner Thesen Belege bei und erläutert auf diese Weise auch Fehler bei der Edition von Comics, mit denen Verlage unbeabsichtigt das Personal im Buchhandel und in Bibliotheken in Verlegenheit gebracht haben, obwohl sich diese Makel bei geschickter Nutzung der Paratexte wie den Angaben auf dem Cover leicht hätten vermeiden lassen. Durch seine Gliederung beschränkt er seine Zugänge und gestaltet dadurch einen eleganten Lesefluss, der sich nur dann staut, wenn er fachsimpelnd vom Hundertsten ins Tausendste gerät wie in seiner Genealogie der großen Meister – so wohlwollend sie gemeint sind, werden sie wohl bei den meisten, die diese Namen gerade kennenlernen, bloß Kopfschmerzen verursachen. Ein Faltblatt mit einer Art Stammbaum wäre die bessere Lösung gewesen. Dass er hingegen die Namen von Comicautorinnen diskret neben die ihrer männlichen Kollegen stellt und mehrfach ihre Seiten und Panel zitiert, dokumentiert eine erfrischend selbstverständliche Gleichberechtigung.
Mit seinem bislang besten Werk, das eine deutsche Übersetzung verdient hätte, erleichtert er Gespräche über Comics ungemein und liefert ein vorzügliches Plädoyer, das Medium endlich mit einem eigenen Fach, einem eigenen Curriculum anzuerkennen. Außerdem kommt es zur rechten Zeit, denn in den Literatur- und Medienwissenschaften wächst seit einigen Jahren eine Erkenntnis, die wahrscheinlich in einen Paradigmenwechsel münden wird: Die Wiederentdeckung des subjektiven Genusses als legitime Instanz innerhalb der Geisteswissenschaften. Wenn es nämlich nicht mehr verpönt ist, das untersuchte Kunstwerk zu mögen, muss sich niemand mehr schämen – auch nicht das Comicpublikum.
Britta Madeleine Woitschig (01/09)
Thierry Groensteen: La bande dessinée, mode d’emploi (Reflexions faites. Pratique et théorie), Brüssel: Les Impressions Nouvelles 2007, 224 Seiten, ISBN 978-2-87449-041-5
www.editionsdelan2.com/groensteen/