1. Februar 2009

Und die wunderliche Welt dreht sich weiter


Ich liege seit Stunden wach, liege im Dunkeln und starre an die Wand meines Schlafzimmers. Seltsame Regungen sind an der Wand zu beobachten, ein Tanzen und Wiegen von Ästen, die wie die Arme eines großen Skeletts wirken. Mein Kino ist eröffnet. Ich könnte das Licht der Straßenlaterne aussperren. Aber ich lasse den seltsamen Tanz zu. Nacht für Nacht. Dieses Schattentheater soll mir beim Einschlafen helfen, mich zu Geschichten verleiten.
Das Skelett winkt mir zu. Es ist ein eigenartiges Skelett, einsam und verloren verharrt es seit so vielen Jahren dort draußen. Solche Ausdauer muss man bewundern. Ich hebe meine Hand und erwidere den Gruß, aber als hätte mein Freund dort nichts bemerkt, winkt er noch immer unaufhörlich aufgeregt. Ihn zu mir ins Bett zu lassen würde wohl nichts bringen. Das würde die Kapazität sprengen. Der Gedanke aber ist lustig, und so muss ich lächeln, während ich die Bettdecke wieder über meine Schultern streife. Das Beobachten von vermeintlicher Kälte, während man selbst wohlig warm liegt, ist eine der dekadenten Tätigkeiten des Schlaflosen.
Wenn ich nicht einschlafen kann, dann lasse ich die Zügel meiner Gedanken fallen und beobachte, was in meiner Kopflandschaft so passiert. Möglich ist dort immer alles. Raumschiffe kollidieren mit Postkutschen. Schriftsteller schreiben gute Romane.

Ich stelle mir einen Autor aus New York vor. Er könnte in Brooklyn leben. Nennen wir ihn doch Paul Auster. Ja, das ist ein guter Name. Er ist ein berühmter Schriftsteller. Und weil er Geschichten über alles liebt, ist er gleich noch mit einer Schriftstellerin verheiratet.
Dieser Paul Auster könnte in seinem Bett liegen. Seine Augen haften an der Wand, suchen dort nach Schatten, die sich zu einer Geschichte verdichten.
Und weil er nicht schlafen kann, schleicht er sich schließlich an seinen Schreibtisch und schreibt.
Und so schreibt er einen Roman.
Der Roman handelt von einem 72-jährigen Literaturkritiker, der nicht schlafen kann. Und weil er nicht schlafen kann, erzählt er sich und uns eine Geschichte. Das gefällt mir, weil er mich damit in der Einsamkeit meiner Nacht unterhält.
Er nennt diesen Mann August Brill, und eben dieser Brill liegt im Bett, fast bewegungsunfähig durch einen Autounfall, gemartert von der Erinnerung an seine verstorbene Frau, die der Krebs ins Dunkel holte.
Um seiner eigenen Geschichte zu entfliehen, denkt sich Brill eine neue Geschichte aus. Sie handelt von einem Zauberkünstler, einem gewissen Owen Brick, den er in einem Erdloch erwachen lässt, in einem Amerika, das durch einen Bürgerkrieg verwüstet ist. Wir schreiben das Jahr 2007, es gibt keinen Krieg im Irak, keine Anschläge auf die Zwillingstürme in New York. Stattdessen kämpfen nach einer betrügerischen Wahl im Jahr 2000, die George W. Bush zum Präsidenten machte, 16 Staaten, die sich die „Unabhängigen Staaten von Amerika“ nennen, gegen die republikanischen Staaten des Landes. Dieser innere Krieg hat bereits 13 Millionen Opfer gefordert. Brick ist der Mann, der diesen Bürgerkrieg beenden soll, indem er den Schöpfer dieser chaotischen Welt exekutieren soll, einen 72-jährigen Literaturkritiker, der sich diese Welt ausgedacht hat, mit all ihren tödlichen Realitäten.
Daneben erzählt uns Auster noch die Familiengeschichte des August Brill. Erzählt von Brills Frau, seiner Tochter Miriam, die von ihrem Mann verlassen wurde, seiner Enkelin Katya, die wiederum den tragischen Tod ihres Freundes Titus zu verarbeiten hat. August und Katya betäuben sich mit Filmen. Wir befinden uns in einem Haus des Schmerzes, der offenen Wunden, die man mit Pflastern aus Geschichten überklebt.
Wenn wir dann am Ende erfahren, wie Titus starb, dann verstehen wir die Sucht von Katya nach Filmen, nach der Erlösung des Bildes durch das Bild.

Paul Auster ist eine literarische Reflexion meiner Leseerlebnisse. Er existiert für mich ebenso wie August Brill oder Owen Brick. Keiner dieser Personen bin ich je begegnet.  
Während ich also wach liege, stelle ich mir Paul Auster vor. Rauchend. Er sitzt an einer alten Reiseschreibmaschine, während seine Frau auf einem Sofa hockt, über einer Kurzgeschichte brütend, die von einem Kritiker handelt, der über einen echten Autor wie über eine fiktive Gestalt schreibt. Und weil sich Fiktion und Realität immer mehr überschneiden, können wir bald keine Grenzen mehr ziehen. Die Fiktion fällt ins Leben ein. Umgekehrt wird aber auch ein Schuh draus: Das Leben beherrscht die Fiktion.

Als schließlich der Morgen graut, spüre ich ein Ziehen in der Blase. Ich schleppe mich durch den Flur hinüber ins Badezimmer, bemüht, meine Frau Annette nicht zu wecken, da stoße ich plötzlich auf ein Hindernis. Sie können sich mein Erstaunen vorstellen, als ich bemerke, dass das Hindernis gähnt. Es lebt. Ich blicke auf. Könnte er das sein …?
„Paul?“, murmele ich verschlafen.
„Guido?“, gibt der andere ebenso verschlafen zurück.
„Paul Auster?“
„Ja. Und Sie sind …?“
„Ja. Guido Rohm.“
„Aber …“
„Sie sprechen ja Deutsch?“
„Eigentlich nicht.“ Paul Auster sieht mich verblüfft an. „Aber vielleicht doch“, stottert er und sieht an sich hinunter, als wäre dort irgendwo eine Antwort zu finden.
„Ich schreibe gerade an einer Kritik zu Ihrem neuen Roman „Mann im Dunkel“.
„Und wie hat er Ihnen gefallen?“
„Sehr gut. Einer Ihrer besten Romane.“
„Oh, das gefällt mir. – Kann ich etwas fragen …“
„Natürlich.“
„Was machen Sie hier in meiner Wohnung?“
„Nichts für ungut, Paul, aber wir befinden uns hier in meiner Wohnung.“

Es ist wieder einmal Nacht. Ich liege seit Stunden wach, liege im Dunkeln und starre an die Wand meines Schlafzimmers. Seltsame Regungen sind an der Wand zu beobachten, ein Tanzen und Wiegen von Ästen, die wie die Arme eines großen Skeletts wirken. Mein Kino ist eröffnet. Ich könnte das Licht der Straßenlaterne aussperren. Aber ich lasse den seltsamen Tanz zu. Nacht für Nacht. Dieses Schattentheater soll mir beim Einschlafen helfen, mich zu Geschichten verleiten.

Natürlich bin ich Paul Auster nicht begegnet. Ich habe mir diese Geschichte nur ausgedacht. Aber sie könnte passiert sein, und umso mehr ich darüber nachdenke, desto mehr wird diese Geschichte zu einem Teil meiner Erinnerung. Vielleicht bin ich Paul Auster wirklich begegnet. Ich kann es nicht sagen. Im Dunkel der Nacht verlieren die Gegenstände ihre Schärfe, alles um einen herum verwischt sich, geht in einander über, wird zu einer Art Brei.
In diesem Moment reißt mich eine gigantische Explosion aus meinen Gedanken. Die Schlafzimmertür ist aus den Angeln gerissen, meine Frau schreit laut auf. Gestalten in Uniformen tauchen auf, umstellen das Bett.
„Wie …Was …“, versuche ich zu einem Satz anzusetzen.
„Guido Rohm?“, brüllt mich einer der Uniformierten an.
„Ja …“
„Ziehen Sie sich sofort an. Wir haben einen Auftrag für Sie.“
„Was für einen Auftrag?“
„Sie müssen etwas für uns schreiben.“
Ich schließe meine Augen. Öffne sie. Hilft nichts. Ich werde wohl gehorchen müssen. Wie kann ich wissen, ob das nur ein Traum ist?    

Guido Rohm

Paul Auster: Mann im Dunkel, Roman, Rowohlt 2008

 

Cohen+Dobernigg Buchhandel

 

amazon