22. Januar 2009

Amerikas schreibendes Gewissen

 

„Im Krieg“ wäre der passendere Titel für den Erzählungsband des amerikanischen Vietnamesen Nam Le. Denn alle Geschichten in seiner Sammlung „Im Boot“ erzählen vom Krieg in seinen unterschiedlichen Ausprägungen: vom Vietnamkrieg, dem Krieg der kolumbianischen Drogenkartelle, dem Atomkrieg und dem Krieg der Geschlechter. Dabei zeigt er, wie nah das Banale und das Besondere beieinander liegen, wenn man genau hinschaut. Seine Figuren wandeln stets am Abgrund, gehen oft ihrem sicheren Untergang entgegen, direkt und ohne Umwege.

In der Auftakterzählung stellt sich der Autor selbst in den Mittelpunkt der Erzählung und löst die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit auf. Ein Student für kreatives Schreiben wird von seinem vietnamesischen Vater besucht. Der Vater kommt wenige Tage, bevor sein Sohn einen Text abgeben muss, und liefert ihm mit seiner Fluchtgeschichte die ideale Vorlage. Allerdings verbrennt der Vater am Tag der Abgabe die einzige Abschrift der Erzählung, und der Leser fragt sich sogleich, was er hier wohl in der Hand hat. Die Geschichte einer Geschichte? Einen Ersatz? Einen fiktiven Text oder ein Dokument der Wirklichkeit? Es bleibt rätselhaft, im Dunkeln, wie auch die anderen faszinierenden Erzählungen des erst 30-jährigen Autors.

Nam Le studierte zunächst Jura in Melbourne und arbeitete danach kurz als Anwalt. Die Freude am juristischen Zerpflücken hat er jedoch nie gefunden, brach seinen Job ab und ging ein Jahr lang auf Weltreise. Dabei entstand das Storybord für einen Roman, mit dessen ersten drei Kapiteln er sich 2003 in Iowa bewarb. Nam Le erhielt ein Stipendium des Truman Capote Fellowship Creative Writing in Iowa und begann, de Geheimnisse des Schreibens für sich zu entdecken. In dieser Zeit versuchte er, seinen angefangenen Roman zu beenden. Als dieser jedoch auf 700 Seiten angewachsen war, musste er feststellen, dass er nicht funktionieren würde. „Niederschmetternd“ sei die Einsicht gewesen, und so begann Le von Neuem zu Schreiben. Er zog nach Massachusetts, erhielt ein weiteres Stipendium und begann, die Nacht zum Arbeitstag zu machen. Am Nachmittag stand er auf und begann, bis in die frühen Morgenstunden zu schreiben. Tagein, tagaus. In diesen dunklen Stunden sind düstere Erzählungen voller Kraft entstanden.

Die Kunst dieser Texte besteht darin, innerhalb weniger Zeilen vom trivialen Alltag eines x-beliebigen Lebens in dessen grausame Realität vorzustoßen, ganz egal, ob sich diese in der Favela einer kolumbianischen Millionenmetropole oder der Idylle einer amerikanischen Kleinstadt abspielt. Das Dunkel lauert hinter jeder Ecke. Die Eindringlichkeit seiner Geschichten versetzt den Leser in ein Gefühl der Ausweg- und Alternativlosigkeit. Es scheint in den sieben Erzählungen gar keine andere Möglichkeit zu geben als der am Horizont heraufziehende Untergang. Die Protagonisten scheinen der Grausamkeit und Brutalität, die ihnen widerfahren, fast sinnlos ausgeliefert. Man möchte fast sagen, dass über den Erzählungen eine Lebensmüdigkeit, eine Lethargie angesichts der unausweichlichen Realität liegt, die wir erst durch Les Erzählungen in all ihrem Ausmaß begreifen lernen. „Die ganze Welt wirkt, als stünde sie auf dem Kopf; unter uns sind die Sterne und über uns ein Himmel, der die Farbe von Erde hat.“ Eine Perspektive, die an den toten Blick des am Boden liegenden Opfers erinnert.

Die Opfer in Les Erzählungen sind die des 20. Jahrhunderts. Sei es der kolumbianische Teenager Juan Pablo Merendez, der als Auftragskiller seinen besten Freund verschont und damit sein eigenes Todesurteil spricht. Oder die Amerikanerin Sarah, die nach Iran reist und vor deren Augen sich alle Illusionen und Hoffnungen auf einen humanen Islam im Nichts auflösen. Oder der adoleszente Jamie, der sich ausgerechnet in Alison verlieben muss, die aber bereits an den stadtbekannten Schläger Dory vergeben ist. All diese Personen tragen einen Funken Zuversicht in sich, dessen Vergeblichkeit bereits mit dem ersten Wort der Erzählung offensichtlich ist. Es gibt keinen Ausweg aus der Realität, der sie ausgeliefert sind, denn nicht sie sind Herr der Situation, sondern die Situation ist Herr über sie.

In all seinen Erzählungen entreißt Le der westlichen Gesellschaft den Spiegel der Blendung und zwingt sie, in den Abgrund zu schauen, der Wirklichkeit heißt. Mit dieser unzweifelhaft politischen Prosa eroberte er die amerikanischen Bücherlisten und war aus den Top Ten für 2008 nicht mehr wegzudenken. Seine sich durch alle Erzählungen ziehende Anklage lautet: Die Welt da draußen ist eine Welt voll Krieg und Elend, und wir schauen tatenlos zu. In „Tehran Calling“ wirft die Iranerin Parvin ihrer amerikanischen Freundin Sarah diese scheinheilige westliche Haltung vor: „Ich habe die Nase voll von den ewigen Debatten und Ausflüchten. Wir eiern hier bloß rum, statt endlich zu handeln. Die andern, die handeln – frag mal das hingerichtete Mädchen, wie lange sie gezögert haben.“ Und auch hier verwischt wieder die Fiktion mit der Realität, denn diese Aussage scheint kaum noch ein bloßer literarischer Akt zu sein, sondern vielmehr politisches Statement eines Schriftstellers, der sich mit jeder seiner Erzählungen ein Stück Empörung von der Seele schreibt? Die schreibende Zunft Amerikas beweist immer wieder, dass sie ein politisches Gewissen hat – Nam Le ist eines ihrer neuen jungen Gesichter.

 

Thomas Hummitzsch

 

Nam Le: Im Boot: Erzählungen. Aus dem Amerikanischen von Sky Nonhoff, Claassen-Verlag, Berlin 2008. 332 S., 22,00 €, ISBN: 3546004426

 

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