28. Oktober 2003

Barbaren, das sind immer die anderen

 

Kapitalismus oder Barbarei? Merkur-Sonderheft 2003, 241 S., 18 Euro

 

Von Gustav Mechlenburg

 

Barbaren sind immer die anderen. Die Parole "Sozialismus oder Barbarei" gab der Linken jahrzehntelang die Marschroute vor. Den Linken war klar, wer die anderen, die Barbaren, sind. Aber wie ist das heute, wenn gefragt wird: "Kapitalismus oder Barbarei?"

Um die Antwort drücken sich die beiden Herausgeber des aktuellen "Merkur"-Sonderhefts, Karl Heinz Bohrer und Kurt Scheel. Sie wollen eigentlich nur ihre These verkaufen, dass es nach dem Ende des Sozialismus "keine Renaissance ernst zu nehmender politischer Ökonomie" gegeben habe. "Intellektuell anspruchsvolle Kapitalismuskritik müsste wohl damit beginnen, die Sündenbocktheorie zu überwinden und zu fragen, ob es sich beim Kapitalismus nicht eher um eine Gans handelt, die goldene Eier legt, weswegen vom Schlachten dringend abzuraten wäre." Dass die Gans goldene Eier legt, ist unbestritten. Aber, um im Bild zu bleiben: Sie will aber auch gefüttert werden, macht eine Menge Dreck und legt ihre Eier nicht für jeden.

Real existierende Probleme wie Umweltzerstörung, mit Waffengewalt ausgetragene Verteilungskonflikte und Ineffizienzen wie Massenarbeitslosigkeit, für die auch die kapitalistischsten Gesellschaften bislang keine Lösung gefunden haben, werden von den Herausgebern offensiv ignoriert. Es gehe "um die revolutionäre Rolle, um die politischen Fortschritte, um die zivilisatorische Mission des Kapitalismus, wie dies Marx und Engels so emphatisch geschildert haben". Das aber ist zu wenig: Die revolutionäre Kraft des Kapitalismus bestreitet nun wirklich niemand.

Aus dem mehr als doppeldutzend starken Wust fachlich redlicher Beiträge, peinlicher Polemiken und überflüssiger Ausflüge in Literatur und Soziologie ragt Norbert Bolz mit "Über Konsumismus" heraus. Bolz setzt auf die zivilisatorischen Effekte des Marktsystems. Die säkulare Weltgesellschaft bietet im Gegensatz zu Fundamentalismen zwar nur schwache Bindungen. Jedoch ersetze das Neue, das der Konsumismus immer wieder verspricht, auf Dauer das Wesentliche.

Die schöne neue Kapitalismuswelt bekommt letztlich also alle Barbaren auf ihre Seite. Der Weg dorthin bleibt allerdings auch nach diesem "Merkur"-Heft ungewiss.

 

Danke, Hendrik

 

FTD 28.10.03

© 2003 Financial Times Deutschland