28. Oktober 2003

Vor dem großen Chaos

 

Nachdem jubiläumsbedingt der Petersplatz gerade aus allen Nähten platzte, darf auch die andere Seite ein bisschen feiern, denn immerhin vier der hier versammelten gut 20 „ketzerischen“ Novellen gibt es nun schon genau hundert Jahre. Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts in verschiedenen Zeitschriften erschienen, brachte Apollinaire die Geschichten 1910 unter dem Titel „L’Hérésiarque et Cie.“ als Buch heraus. Seit 1905 auch als Kunstkritiker tätig, 1908 Georges Braque, 1911 die Kubisten würdigend, verrät Apollinaire mit dem „Erzketzer“ indes an keiner Stelle, dass man es bei ihm mit einem Autor zu tun hat, der sich der Moderne verschrieben hat. Der Stil ist klar, beinah nüchtern, und manche Gespräche stehen in der bewundernswerten Tradition des klassischen Rationalismus, dem auch Buñuel noch in dem einen oder anderen seiner späteren Filme huldigt. Es ist, als ob man sich, kaum dass man die erste Seite gelesen hat, etwas gerader hinsetzen würde und noch prüft, dass man eine Stellung zum Buch eingenommen hat, die man für die Dauer der Geschichte nicht mehr zu verändern braucht.

Die so eingenommene Haltung sollte man nicht verwechseln mit einem Schreber’schen Tischzwang. Was sich in ihr ausdrückt, ist eine respektvolle Distanz zu einem Geschehen, das den Leser vermutlich nicht unmittelbar angeht, dessen Personal nicht zu seinem täglichen Umgang zählt – etwa Päpste, ewige Juden oder Hochstapler großen Maßstabs –, von dessen Ton er jedoch sofort merkt, dass er ihn ausgezeichnet unterhalten wird. Wie fremd die Welt auch ist, die jeweils skizziert wird, so verfügt jede Geschichte über einen novellistischen Sog, der nichts von seiner Qualität verliert, auch wenn der Leser – wie etwa bei „Lepra“ – am Ende feststellt, dass er einem über sechs Seiten sich erstreckenden schlichten Wortwitz beigewohnt hat.

Das Beste an diesen Geschichten ist für den heutigen Leser vermutlich, dass Apollinaire sich jeder Psychologie enthebt. Endlich einmal wieder keine Motive, an die man glauben muss oder auch nicht. Keine Verrätselungen verwickelter Seelen, ganz selten mal eine diskrete Andeutung eines verwundeten Herzens, wie in „Das Sakrileg“, ansonsten nichts als die konsequent trocken erzählte Geschichte. Bücher wie diese führen indirekt vor, mit wie viel Gefühlsschrott der Leser in ganzen Bibliotheksabteilungen belastet wird. Umgekehrt vermag der Autor zu zeigen, wie Skandalöses und Magenumdrehendes ironieverträglich sein kann wie in der aberwitzigen Geschichte „Cox-City“, in der der Erzähler, der Baron d’Ormesan (ein anderer Münchhausen) zum Kannibalen mutiert. Außerdem erfährt der Leser, dass, kaum dass das Kino geboren ist, reality-show und snuff-movie nicht weit sind („Ein schöner Film“).

Das Wenigste, das man von Apollinaire sagen kann, ist, dass er sich von der Hysterie seiner Zeit hat anstecken lassen. Eine singuläre Ruhe und Souveränität zwischen den Wolken der Fin-de-siècle-Exorbitanz und denen der Kanonen des Ersten Weltkriegs. Kathartisch im außermoralischen Sinn. Man wünscht sich mehr von diesen Novellen.

Das mag sich vielleicht auch der französische Schriftsteller Marcel Aymé gesagt haben, der 1943 einen Erzählband unter dem Namen „Le passe-muraille“ (etwa: Der Mann, der durch die Wand gehen konnte) publizierte und sich eindeutig von zwei der apollinaire’schen Ketzergeschichten hat inspirieren lassen, so in der Titelgeschichte, in der ein Mann die Fähigkeit hat, vor eifersüchtigen Ehemännern in der Wand zu verschwinden, und in der Erzählung „Les Sabines“, bei der es um die Fähigkeit der personalen Vervielfältigung geht. Vervielfältigen sollten sich auf jeden Fall die Leser dieses „Erzketzers“, der Verlag „Das Wunderhorn“ hat die besten Voraussetzungen dafür geschaffen, indem er das Buch erneut auflegte.

 

Dieter Wenk

 

<typohead type=2>Guillaume Apollinaire, Erzketzer & Co., Heidelberg 2003 (Wunderhorn), 237 Seiten</typohead>