Romane ohne Worte
Ein schweres Buch ist nicht unbedingt ein Buch von Gewicht. Damit ein Werk maßgeblich wirken kann, muss es sich qualifizieren, indem es einen immateriellen Inhalt präsentiert, der über das tagesaktuelle Geschehen erhaben ist. Allerdings ist das mit der Erhabenheit im Comic eine zweifelhafte Sache, denn das Medium nimmt im kulturellen Ensemble eine eher randständige Position ein und erweist sich in erster Linie als Tummelfeld von verschworenen Fans, verschrobenen Stubengelehrten und einer Handvoll international anerkannter Experten. Was innerhalb der doch recht übersichtlichen Szene von Belang ist, muss es in der allgemeinen Kultur deshalb noch lange nicht sein – dazu muss es Perspektiven für ein breites Publikum eröffnen, also sowohl den wissenschaftlichen Standards der Universitäten genügen als auch von Interessierten gelesen werden können, die einfach mehr wissen wollen.
Der Name David A. Beronä dürfte dem deutschsprachigen Comicpublikum fremd sein, denn in seinem Brotberuf leitet der freundliche Herr mit dem schütter werdenden Haar eine amerikanische Universitätsbibliothek, deren Bestände er auch online als Webmaster pflegt. Zu den Stärken seiner prall gefüllten Abhandlung über Romane ohne Worte gehört die exzellente Bibliografie aller erwähnten Werke. Der Professor der Bibliothekswissenschaften weiß zudem genau, wodurch sich vorbildliche Buchobjekte auszeichnen. Die äußere Verarbeitung seiner gebundenen Studie „Wordless Books. The Original Graphic Novels“ bei Abrams setzt deshalb Maßstäbe: Der Druck auf dem festen, elfenbeinfarbenen Papier kann sich gegen jedes Kunstbuch behaupten; Das großzügige Layout der begleitenden Texte verlockt zum Weiterlesen, und die übersichtlichen Kapitel verleiten dazu, den haptischen Genuss vom Nachttisch oder aus dem Regal zu nehmen und blätternd oder schmökernd zu wiederholen.
Und auch inhaltlich hat „Wordless Books“ selbst für Comicexperten einiges zu bieten. Seit Mitte der 1990er Jahre schreibt Beronä Rezensionen und Artikel in den Fachpublikationen „The Comics Journal“, „International Journal of Comic Art“, „Print Quarterly“ und „Library Journal“, fungiert als Kurator von Ausstellungen und stellt seine Forschungen auf Kolloquien oder in seinem Blog (seit 2007) vor. Dieser Band versammelt seine Ergebnisse über den stummen Comic sowie dessen Verwandte in Kunst und Presse aus dem Zeitraum von 1918 bis 1951. In monografischen Kapiteln gibt er Einblicke in das Schaffen von Meistern wie Frans Masereel und Lynd Ward, entdeckt vergessene Größen wie Otto Nückel, Giacomo Patri und Laurence Hyde wieder und verzaubert mit vormals Unbekannten wie dem Ungar Istvan Szegedi Szüts, dem Amerikaner William Gropper und der Tschechoslowakin Helena Bochorakova-Dittrichova. In einem summarischen Kapitel über „Cartoon Books“ werden e.o. plauen mit „Vater Sohn“, Milt Gross und Myron Waldman knapp abgehandelt. Beronä weiß sein Material zu gewichten, das er durch die beiden Themenkreise der pazifistischen Kritik an den Materialschlachten des modernen Kriegs im Besonderen und dem Krieg als Strategie, Konflikte zu lösen, im Allgemeinen sowie an der Kritik sozialer Missstände grob ordnet. Diese werden zu Anfang von Masereel und Ward gesetzt. Die chronologische Struktur des Gesamtwerks unterstreicht jedoch die analytischen Schwächen der Pionierstudie, der eine theoretische Klammer fehlt, denn den historischen Hintergrund bringt er auf drei Seiten! unter, und das letzte Kapitel mit den Ergebnissen ist mit zwei Seiten! zu mager und enttäuscht. Mit der Elite der internationalen Comictheorie, -forschung und -geschichte (u.a. Thierry Groensteen, Jan Baetens, Pascal Lefèvre) kann er sich leider nicht messen. Eine Teilung nach Masereel und Ward in zwei thematische Abschnitte hätte den Band um eine Klasse aufgewertet.
Zu seinen Verdiensten gehört es, über den großen Teich nach Europa geblickt und eines seiner zwölf meist enzyklopädischen Porträts dem Werk einer Frau gewidmet zu haben. Dass ihm genügend Material bekannt ist, um möglicherweise einen zweiten Band folgen zu lassen, zeigt seine kleine Anmerkung vor dem Inhaltsverzeichnis, in der er auf die Themenkreise biblischer und biografischer grafischer Romane hinweist.
Ideelle Unterstützung für seine comicgeschichtliche Forschung erhielt er dabei von Will Eisner, dessen Lob sich auf dem Backcover befindet, und dem Comiczeichner und Illustrator Peter Kuper, der von dem verstorbenen Exilkubaner Antonio Prohias den pantomimischen „MAD“-Klassiker „Spy vs. Spy“ übernommen hat. Das im Buchhandel modische Schlagwort für anspruchsvolle Comics ohne Fortsetzungscharakter, „graphic novels“, erhält im Kontext seines Bandes eine breitere Bedeutung, obwohl ihm der Schöpfer dieser Marke, nämlich Eisner, faktisch Absolution erteilt. Die Aufforderung zum Widerspruch durch Rezensionen, Debatten in der Fachpresse und im Feuilleton oder in der akademischen Arena ist Teil der Marketing-Kampagne, durch die sich dieses Buch behaupten will. In den letzten beiden Jahrzehnten wandelte sich die Definition des Comics enorm, meist zum Vorteil des Mediums, obwohl national geprägte Kontroversen seit Beginn der Studien die Geschichte durchziehen. Dieser Schachzug sei Beronä verziehen, denn der bebrillte Bibliotheksleiter öffnet in seiner Kunst- und Wunderkammer das manchmal hermetische Medium für diejenigen, die vielleicht (noch) Vorbehalte hegen oder sich für nicht kompetent auf diesem Gebiet halten.
Britta Madeleine Woitschig (01/09)
David A. Beronä: Wordless Books. The Original Graphic Novels. Introduction by Peter Kuper, New York: Harry N. Abrams, Inc. 2008, 256 Seiten, gebunden, ISBN 978-0-8109-9469-0