Burgen, gemacht aus Sand
Dass das Wort »Hindenburgdamm« mit einem Gedanken an Jimi Hendrix verknüpft ist, verdanken wir Klaus Theweleit. In den Vorbemerkungen zum ersten Band seiner »Männerphantasien«, 1980 bei Rowohlt erschienen, blendet der Kulturwissenschaftler auf damals ziemlich neue Art private Geschichte über in Weltgeschichte und wieder zurück; synchronisiert kleinbürgerlichen Familienalltag mit Rockmusik und Hollywood mit Psychoanalyse. Und steckt das Terrain neu ab, auf dem die letzte Generation, deren Eltern vielleicht Nazis gewesen waren, künftig ihre Spurensuche betreiben muss: »Aus Stalingrad kam Elvis«. Theweleit präsentiert auf derselben Umlaufbahn hoch- und gegenkulturelle Komplexe, was es nicht nur erlaubt, Pop zu emanzipieren, sondern auch, in dessen Sprache über Hochkultur zu schreiben. Er ist ein Übersetzer, der kaleidoskophaft kulturelle Deutungen zu bizarren Mustern übereinanderlegen kann.
Dabei kritisiert er die »Unbekümmertheit so vieler (auch die eigene) ..., die hier den Faschismus bekämpfen wollen, aber selber stumpf sind für die Erfahrung des Nicht-Faschistischen«. Diesen engen Erfahrungshorizont gilt es zu sprengen und die Strudel kultureller Inkompatibilitäten hereinzulassen. Auch Hendrix erscheint dabei auf der Szene: »You know who is REALLY living in fantasy land? It’s the damned masses. The masses.«
»frauen, fluten, körper, geschichte« ist das Werk untertitelt. Das könnte eigentlich auch auf der Biografie über Jimi Hendrix stehen, die Theweleit jetzt in Zusammenarbeit mit dem Publizisten Rainer Höltschl fertiggestellt hat. Sicher ist das Anknüpfen, das Wiederaufgreifen des Fadens kein Zufall. Zumindest eben, was den Koautor Klaus Theweleit betrifft. Der hatte bereits Anfang der 90er Jahre einen Aufsatz über Hendrix in der »taz« veröffentlicht, überarbeitet unter dem Titel »Rock for Grown-ups« 2002 wieder aufgelegt in der von Frank Schäfer herausgegebenen Aufsatzsammlung »A Tribute to Jimi Hendrix«. Und auch in dem Fleißmonument »Buch der Könige« spielt Hendrix eine Rolle als Orpheus aus der Außenwelt.
Was wessen Anteil an der Hendrix-Biografie ist, machen die Autoren nicht kenntlich. Es gibt Anzeichen, dass Höltschl eher mit dem groundwork der biografischen Datenarbeit zu tun hatte. Theweleit mag sich den artistisch dankbareren Stücken gewidmet haben, den Tiefenschichten von Rausch, Liebe, Tod, Mythologie. Es tauchen Passagen aus seinem früheren Aufsatz zum Teil wortgetreu wieder auf; und auch das damals zentrale Anliegen gilt nun der gemeinsamen Arbeit: Hendrix stärker als Songwriter und als Studiomusiker zu würdigen. Der werde nämlich »zum größten Gitarristen der Rockgeschichte heruntergemacht«, heißt es schon in »Rock for Grown-ups«.
Man muss spätestens jetzt sagen, dass dies nicht die ultimative, definitive Biografie über den Gitarrengott Jimi Hendrix ist. Sie will das nicht sein und tut auch gar nicht so, als ob. Stattdessen schreiben die Autoren ihr Hendrix-Buch, füllen Lücken im historischen Material gekonnt, manchmal mit literarischen Kunstgriffen, lassen aber Hendrix und seine Zeit richtig auferstehen. Das Ganze fühlt sich häufig an wie eine gute Improvisation am oder Fantasie über das Thema Hendrix.
Ohne sozusagen fröhliche Kulturwissenschaft geht es folglich nicht – oder »schräge Wissenschaft«, wie sie im ersten Kapitel herbeizitiert wird. Indes wissen Höltschl und Theweleit genau, was sie tun: Eine gewisse Datenmenge sei nötig, aber in den späteren Kapiteln herrsche eine andere Mischung vor, geben sie uns mit.
Man könnte auch sagen: Montage. Denn von Anfang an flechten sie Songtexte in eigener, manchmal ziemlich eigenwilliger Übersetzung in den Lauftext, was die biografischen Daten illustriert und verdichtet, zugleich aber auch den lyrics eine Einordnung gibt, die man als Hörer sonst nicht ohne weiteres nachvollziehen könnte.
Theweleit und Höltschl bleiben bei der Übersetzung nahe an der Musik. Die Silbenzahl soll möglichst erhalten bleiben, sodass man den Text beim Hören der Stücke »vor sich hin murmeln« kann. Das produziert zwangsläufig Stilblüten wie »Ich brenne die Mitternachtslampe« oder »Die Nacht, in der ich geboren wurde, wurde der Mond feuerrot«. Es gibt gute Gegenbeispiele in Frank Schäfers »Tribute«-Band. Und wer möchte, kann sich ja Übersetzungen danebenlegen, die die deutsche Grammatik enger führen.
Lyrics – nicht gleich Lyrik: Da zeigt sich eine wohldosierte Enthaltsamkeit. Sie konfrontieren den Rock mit ihrer Hermeneutik, interessieren sich aber nicht für Eingemeindung und Einfriedung. Es muss sich nicht alles eins zu eins übersetzen lassen. Oft besteht die Transferleistung auch darin, den passenden Spirit aufzurufen, worauf sich Theweleit bestens versteht.
Die Balance zwischen Evokation und Übersetzung gelingt auch manchmal durch Brechung, wenn der Ton vom Narrativen ins Interpretieren geht, die Handlung ins Spekulative oder die biografischen Fakten durch musikalische Bedeutungen übermalt werden. Über eine lange Strecke ermöglicht die Schnitttechnik, Hendrix etwas auf Abstand zu halten und ihn nicht von vornherein mit superlativen Attributen zu überschütten. Doch diese Anverwandlungen sind gleichzeitig die Spitze der Übersetzungsleistung und deren Ende: Denn einerseits verdeutlichen sie auf bestmögliche Weise, andererseits lassen sie es beim Stimmungmachen bewenden und bemühen sich nicht um einen festeren analytischen Standort.
Hendrix ist Lyriker, Songwriter, einer, der nicht nur Gitarre, sondern mit der Verstärkertechnik spielt, selbsterklärter Außerirdischer, Grenzen sprengender Spielertyp, Junge am Mischpult, mit keinem Sound zufrieden, Hinwegsetzer über Rassenschranken, Experimentator, einen Schritt voraus, Dylans Texte im Gepäck, was für einen Afroamerikaner irgendwie gar nicht geht – ohnehin nach eigenem Verständnis indian –, auf dem Weg zum Jazz mit Coltranes Alben, in Sessions mit Miles Davis. Muss aber erst noch die Rockgitarre erfinden. Alles in einem kurzen Erdenleben, umgeben von einer »Girlande« von Frauen, in ruheloser Abfolge chemisch generierter Schlaf- und Wachphasen, von deren bloß synthetischer Energie sich der Körper des Verwandlers schließlich nicht mehr erhalten kann: Wer sich derart sediert, lähmt seine Reflexe und kann leicht an Erbrochenem ersticken; das Schicksal teilt er wohl mit Charlie Parker, das des Todesalters mit Janis Joplin, Jim Morrison, Brian Jones und – Kurt Cobain, dem »Club 27«.
Nach der Logik der Überblendung von Kultursphären befindet sich Hendrix auch umstandslos in Gesellschaft Frühvollendeter wie Mozart oder Georg Büchner, und der Wind, den er macht, übertrifft selbst den Richard Wagners.
Der Treibstoff der 60er Jahre ist die Hervorbringung des Nicht-Faschistischen. Aber was könnte das sein? Irgendwo ist von »Anti-Zerstörungskraft« die Rede, ein netter Versuch, sich auf negative Weise zu nähern. Oder, ideologisch wohlaustariert: »In Hendix’ Musik verlöscht der Ideologie-Körper des zwanzigsten Jahrhunderts, der Gehorsamkeitskörper der faschistischen Blöcke wie auch der Zurichtungs-Körper der sozialistischen Überzeugungs-Garden.«
Hendrix lässt sich in den sozialen Bewegungen tatsächlich nicht so einfach unterbringen. Er spendet manchmal Geld, äußert sich aber ohne klare Linie und steht keiner Bürgerrechtsbewegung nah. Seine musikalische Orientierung verstärkt den Abstand, obwohl er sich auch Illusionen macht, in Harlem die Massen mobilisieren zu können. Doch dort wird er stattdessen von der Bühne gejagt. Dass er mit Mitch Mitchell und Noel Redding arbeitet – weißen Musikern –, macht ihn suspekt. Dass er einen Dylan-Sticker an der Jacke trägt und dessen Stücke spielt, umso mehr. Die »Soul Brothers« in Harlem mögen den und seine Texte nicht. Hendrix sei eine Kokosnuss: außen colored, innen weiß.
Die weiße Protestbewegung gilt als Plagiat. Aber auch die ist für Hendrix kein Zuhause. Und ein schlichtes »Make love, not war« lässt sich leichter propagieren als leben. Der, in dessen Familie geschlagen wurde, schlägt seine Frau. Und den Krieg in Vietnam vergleicht Hendrix schon mal mit der Befreiung Europas durch die Invasion in der Normandie. Als ehemals stolzer Fallschirmjäger ist seine Sensibilität hier wohl vermindert. Theweleit meint, solche politischen Widersprüche sollte man besser Mehrseitigkeiten nennen. Dabei trägt Hendrix durchaus zur Umwertung der US-Werte bei: Bei ihm sind die Plastikmenschen die Miesen und die Freaks die Guten, woran man sich inzwischen natürlich gewöhnt hat.
Nach seinem Tod, in den 70ern, sammeln sich um Hendrix ehrfürchtige Geschichten: Er stimmt seine Strat, während er spielt. Er wechselt Saiten mitten im Stück. Verheizt Hunderte weiße Stratocasters. Findet keine Jobs als Gitarrist, weil er schlicht zu gut ist und den anderen Beteiligten die Schau stiehlt – nicht jede Meinung wird in der Biografie wiederholt und nicht jede Legende aufgeklärt. Nur in Kombination mit Redding und Mitchell sei Hendrix gut, wurde früher oft erklärt. Doch hier wird kein Purismus etabliert, wo Hendrix selbst keinen hatte. Er war in die Studiotechnik verliebt und lud reihenweise Musiker zum Jammen ein.
Bei der Frage nach der gitarristischen Klasse sichern mehr Fußnoten als sonst den Text. Richie Havens beim Hendrix-Konzert: »Wer ist der zweite Gitarrist?« Jeff Beck: »Er tat genau, was ich wollte. Ich konnte bloß nicht.« Im Fall von Eric Clapton und Pete Townsend reichen die Autoren die »Wer ist der Saitengott?«-Parabel vielleicht etwas zu ungebrochen durch: Der Magier kommt in die Stadt und die redlichen Handwerker verschwinden in ihre Löcher.
Insgesamt aber setzen sie gegenüber den seit 40 Jahren gepflegten Legenden ihren Stil durch. Keine Ikonen-Verehrung, keine Polithuberei an den Bluenotes des Blues. Phasenweise ist die Dramaturgie absolut fesselnd. Auf deren Höhepunkt wird ein Gedanke Friedrich Kittlers umgedeutet und Hendrix erhält den verdienten Platz in der popkulturellen Geschichte der Subversion: »Die rapide Elektrifizierung der Musik ist weniger Missbrauch von Militärgerät; sie ist sein für den Moment gelingendes Kidnapping.« Im Geist des summer of love gewinnt die Technik friedvolle Seiten zum Gebrauch durch freaks.
Die Mischmethode wirkt intensiv, erhellend, zuweilen auch ermüdend einfühlsam. Es kommt vor, dass die Autoren mit ihrem Objekt abdriften, wo sie es nur ein Stück verrücken wollten. Aber wer weiß das? Hendrix wird mit der Aura des Überschreitens umgeben. Er transzendiert das Soul-Universum, sprengt und erweitert Räume. Seine Triebkaft ist das Ungehörte mit vielfältigen elektrisch-organischen Verschmelzugen und Körpermetaphern. Dass Hendrix die neue Verstärkertechnologie innovativ nutzt, ist klar. Aber man muss seine Musik auch laut hören. Erst dann stellen sich losgelöste, »dritte«, Phänomene ein, weil der Körper des Hörers in Schwingung gerät, selbst zur Membran wird. Die sozialen Komponenten der Rockmusik werden beim gemeinsamen Hörerlebnis erfahrbar. Die Lautstärke ist eine Eintrittskarte. Die Hörer werden von der Musik »angefasst«. Nur: Inwiefern etwa »sind« menschliche Körperzellen Schwingung?
Zum Gutachter in Musikpsychologie wird Vilem Flusser bestellt: »Da der Hörende beim Hören selbst die gehörte Musik ist, da sein ›Selbst‹ die Musik ist, heißt, sich der Musik anpassen, eben selbst Musik zu werden.« Der Hörer des Electric Sky wird selbst zum Teil des Himmels. Das lässt sich – halb im Konjunktiv – zwar durchziehen, aber man hat schon geistreichere Werkanalysen zumindest von Klaus Theweleit gelesen (wie die genialen Gedanken zu Coltranes Saxophonsolo in »My Favorite Things«!).
Mehr als seriöse Musikpsychologie entspinnt sich eine assoziative Psychoanalyse der Musik: Die army-bedingte Abwesenheit brüllender Väter sei verantwortlich für die »Verankerung der Körper so vieler in diesen Jahren geborener Kinder in Musik und im Tönen der Mutterkörper, so es ein tönender war.« Die Einschränkung ist wohl nötig, macht aber den Sinn des ganzen Satzes fragwürdig. Vielleicht nützt die Erinnerung daran, dass Theweleit mit Hendrix das Geburtsjahr 1942 teilt.
Endlich erwachsen zu werden rieten früher manche Ältere später berufsjugendlich genannten Rockern. Eine mögliche Antwort war, das Altern selbst rebellisch zu verwerfen: »Hope I die before I get old« (Pete Townsend) – »Too old to rock ’n’ roll, too young to die« (Jethro Tull) – »Trau keinem über 30« (seit 1968 Karl Marx zugeschrieben).
Eine andere ist, den Rock für Große auszurufen und so aus dem Adoleszenzmilieu herauszuheben. 1967 war das Jahr des Konzeptalbums, »das Ende, die Segnung, die Einholung« des Rock ’n’ Roll auch durch »Electric Ladyland«. Seitdem, so Theweleit/Höltschl (mindestens seit Velvet Undergrounds Bananenalbum), ist Rock nie mehr einfach Teenage-Musik gewesen. Schon früher schrieb Theweleit, der Jazzsaxophonist Steve Lacy »nennt es Magie, ich nenne es Körperpolitik, meinetwegen auch Wachstumsunterricht. Ein Wachsen von Phasen übrigens, die ein bestimmtes Alter voraussetzen. Ich habe bei Jugendlichen, die bestimmte Körper-Misch-Erfahrungen nicht haben, gesehen, dass Hendrix’ Berührungen leicht an ihnen vorbeigehen.«
Dabei spielt Beunruhigung eine Rolle. Das Beunruhigende an Hendrix’ Musik sei keine Brutalität oder Gewalt, sondern der resultierende Subjektverlust. Ihre Offenheit sei das Beängstigende. Der »Wechsel körperlicher Aggregatzustände«. Daraus setzt sich der «Kern der Angst« frei, der diese Musik für labilere Menschen unangenehm werden lässt. Man muss schon experienced sein, um das auszuhalten – musikalisch, zwischenmenschlich, sexuell. The Jimi Hendrix Experience heißt dessen erste erfolgreiche, eigene Band. Der »labile« Hörer ist der Experience nicht gewachsen.
Was wir von Hendrix’ Texten hören und verstehen, ist ein Konglomerat diffuser intensiver Körperzustände, die alle nicht auf Eindeutigkeiten hinauslaufen, auch nicht auf sexuelle wie ein »I feel fine ...« der Beatles. Es geht vielmehr um Schwindel erregende Affektmischungen, einen »Kick der Vermischungs-Räusche«.
Körperverwandlung, Wachstum und experience bilden einen Komplex, der auch auf den Generationenfortschritt transponiert wird: Die Jüngeren durchlaufen »Wachstumsprozesse, die der jeweils älteren Generation gern als ›Rückschritte‹ erscheinen.« Für die Generation der 68er sind dabei auch Drogenerfahrungen relevant. Doch wenn die Autoren etwa »Purple Haze« kennzeichnen als »frei von Angst, ja euphorisch«, fragt sich der Leser, wie viel Chemie an der Angstfreiheit im Hintergrund und zu jeder Tageszeit mitwirken mag. Spannend wäre es, zu sehen, wie Hendrix die alltäglichen Störungen, die eben auch seine Kunst beeinträchtigen, außer Kraft setzt. Man möchte wissen, wie es ihm gelingt, den Flug zu simulieren, statt annehmen zu müssen, dass er wirklich fliegt.
»Man darf keine Angst haben«, lässt Sartre schon in den 1930er Jahren Antoine Roquentin in sein Tagebuch schreiben (»Der Ekel«). Der Satz richtet sich gegen die sichernde Formation einer kleinbürgerlichen Welt und macht das Angsthaben zum Ausgangspunkt für soziale Gleichförmigkeit und Unbeweglichkeit: Dass sich nichts ändert!
Die Welt der 60er Jahre war nicht experienced. Nicht bereit für den radikalen Schritt, den Hendrix vorausgegangen ist. Sie konnte ihm nicht folgen und hat ihm daher nahegelegt, auszuscheiden. Wie bitte? Wie schied Hendrix aus dem Leben? Kein Mord, kein tragischer Unfall, keine Unachtsamkeit – »eher … so etwas wie eine insgeheime Übereinkunft unter vielen, dass ›jemand weg soll‹, ›seine (oder ihre) Zeit um ist‹. Dieser soziale Abführvorgang trifft speziell öffentliche Durchbruchsfiguren …«
Interpretiert die fröhliche Wissenschaft noch die Kultur oder ontologisiert sie die tragischen Ereignisse schon? »Im Verlauf der Eingeleiteten Opferung vermittelt die Anhängerschar den Ausgewählten auf vielfältige Weise, dass sie nun besser gingen.« Wie wird »man« Subjekt der Geschichte? »Man will und muss ... solche Exponat-Figuren loswerden...«
Beim Versuch, dieses Subjekt dingfest zu machen, ist auch der zu Opfernde selbst beteiligt: In Form eines »Selbstmordanteils« am »Mord, der nicht Mord genannt werden kann«.
Erhellt das irgendetwas? Seltsamerweise schon, aber die überlagernden Verschwurbelungen sorgen dafür, dass man nichts davon hat. Die krude Sozialtheorie des Opferns tritt nicht mehr als Form von Literatur auf, sondern gebärdet sich als Meta-Poptheorie, die gewissen Ansprüchen genügen müsste, statt selbst Pop zu werden. Sie wird nicht mehr untermauert und ist mit den emanzipatorischen Errungenschaften der Rock-Kultur schlecht zusammenzubringen. Groupies und Fans verschmelzen zu einer dumpf-unterbewusst sich ihres Idols entledigenden Masse. So kommt auch das Hendrix-Zitat wieder in Sicht: »Who is REALLY living in fantasy land? It’s the damned masses.«
In ihrer Anverwandlungsfreude wird Höltschtls und Theweleits Theorie aber hermetisch: Sie lässt sich in nichts mehr übersetzen als zurück in Rockmusik – vielleicht.
Gitarren brennen und Nationalhymnen werden »zerfetzt«. Der »Sturzflieger- und Bombenklangteppich von Star-spangled Banner« – besonders in der Woodstock-Version, gilt als Hendrix’ Beitrag zur Anti-Vietnamkriegs-Bewegung. Doch es gibt für die Bedeutung dieser Geräusche auch andere Erklärungen; die Autoren referieren das kritisch und mit Verweis auf den »Tribute«-Band Frank Schäfers. Bei der Vorstellung, Hendrix habe die US-Hymne in einem Gitarrensolo »zerfetzt«, kann man Zweifel am nötigen Aggressionspotenzial haben. Ist er nicht eher so der Spielertyp, der sich die traditionelle Melodie greift und prüft, ob sie noch für eine neue Zeit taugt? Und das wäre auch eine Form von »Kidnapping«.
Vielleicht hätte es sich gelohnt, genauer auf Hendrix’ Gitarrenspiel zu blicken, wenngleich es sicher richtig ist, ihn nicht darauf reduzieren zu wollen. So lässt die Biografie eine geheimnisvolle Seite im Dunkeln; eine paradoxe und widerspruchsvolle.
Vergleicht man etwa Bob Dylans 1965er Version von »Like a Rolling Stone«, live und erstmals elektrisch gespielt auf dem Newport Festival – womit Dylan seine Fans schockierte –, mit der von Hendrix auf dem Monterey International Pop Festival im selben Jahr, wird klar, worin dessen innovative Kraft besteht. Beide verwenden im Prinzip dieselbe Gitarre (Massenware von Fender eben). Aber Hendrix bringt das Instrument zum Singen. Seine Sounds erschöpfen sich nicht in schnell zu habenden Sägezahnverzerrungen und folkigem strumming, sondern sind melodisch, harmonisch, obertonreich. Sein Stil weist eine überraschende Klarheit auf, was Zeitgenossen, überwältigt von der schieren Lautstärke und Präsenz, vernachlässigen. Hendrix beherrscht sein Instrument in dem Sinn, dass er ihm seinen Klang gegen jede Lautstärke – und mittels dieser – abgewinnt. Er meistert das Spiel der Kräfte, das sich bei seinem technischen Equipment aus dem Gegeneinander von Differenzierung und Lärm ergibt. Er benutzt die Gitarre tatsächlich wie ein Außerirdischer, der einen merkwürdigen Gegenstand gefunden hat.
Der Stil ist ambivalent: Die Gitarre um einen halben Ton runtergestimmt, was die Saitenspannung stark reduziert. Hendrix verwendet zudem »lockere« 9er Saiten (verbreitet sind 11er; John Scofield etwa nimmt 13er). Er hat große Hände und lange Finger. Auf manchen Bildern sieht man, dass sein Daumen von oben bis zur dritten Saite über das Griffbrett reicht. Weiche Saiten verziehen schnell, schon kleine Bewegungen auf dem Griffbrett geben der Tonhöhe und der Obertonzusammensetzung eine andere Färbung. Trotzdem gelingen Walking-Bass-Läufe und Harmoniefolgen, trotzdem singen die Saiten beim Sliden durch Quartparallelen und den präzise, aber lässig gesetzten Hammerings auf Durchgangsnoten.
Hendrix setzt seine Spieltechnik einer Unberechenbarkeit seiner Ausrüstung aus: Nicht nur das Rauschhafte, Laute und Ausufernde charakterisiert seine Musik, sondern auch die mechanische Leichtigkeit seiner Läufe, das Unangestrengte seiner sauber getimten Riffs. Dieser Stil entfacht nicht bloß Elektrogewitter, sondern besitzt auch eine unglaubliche Coolness. Die Manier späterer Rockgitarristen, schweißtreibend an Hals und Korpus zu schuften, ist Hendrix fremd. Seine Sounds entweichen wie bunte Vögel aus der großen, hohlen Hand.
Bei schlechten Bühnenbedingungen scheppern und krachen die Mitschnitte. Theweleit und Höltschl beschreiben einige solche Aufnahmen. Es schleichen sich Funkfrequenzen vom Radio ein. Hendrix konnte die Feinheiten seines Spiels nicht abstimmen und produziert Lärm. Was dann die Technik verhindert, erschweren aber sowieso zunehmend die Drogen: Sie stören die Koordination zwischen Ohr und Händen. Vielleicht war Hendrix in dieser Hinsicht leichtfertig, vielleicht hat er solche Herausforderungen und Gratwanderungen gesucht. Das Dilemma ist: Die fragile Balance von psychedelischen Drogen, Präzision und Energie aufrechtzuerhalten. Wie lange hätte er noch seine treibende Kontrapunktik gegen den ausufernden elektrischen Soundstrom und die Halluzinationen verteidigen können?
Hendrix war alles, nur kein Lebenskünstler. Aber aus dieser Perspektive bliebe er wenigstens Subjekt seiner Lebensgeschichte, statt Opfer.
Trotzdem muss man den Autoren zugestehen, dass sie ihre mindestens abenteuerliche Metaphysik derart offen vortragen. Sofern das Ziel eine Rock-Geschichtsschreibung ist, die selber rockt, lässt sich das Ergebnis kaum kritisieren. Es wird im Übrigen auch erreicht. Am Ende schreiben sie: »Hendrix’ Energien sprengen Wissenschafts-Körper«. Da kann man wohl eine Einsicht herauslesen, dass das eigene Werk auch Fragen aufwirft. Viel Distanz zu Hendrix ist nämlich nicht mehr übrig. Aber das schadet auch wieder nicht.
Ralf Schulte
Rainer Höltschl, Klaus Theweleit: Jimi Hendrix. Eine Biografie. Rowohlt Berlin 2008, 254 Seiten, 18,90 €