24. Dezember 2008

Die Scham kippen

 

„Bei Sade ist nichts verschleiert, bei Rousseau alles; Sade hat alles schon bereits überschritten; Rousseau lädt ständig zur Transgression ein, er spielt immer Tugend, um mehr zur eigenen Perversion anzuspornen.“

 

Georges-Arthur Goldschmidt

 

 

Die Scham, jenes wuchernde Stigma des Selbst, deckt allzu gern den Mantel der Autofiktion über sich. Autobiographisches Begleitmaterial wird bereitwillig von der moralischen Bekleidungsindustrie zur Verfügung gestellt. Sei es, dass man sich als Tugendwächter verkleidet oder als Bannträger Gottes, in all diesen Verkleidungen verfügt man über die Interpretationsgewalt des Selbst. Man behält die Deutungshoheit. Am Ende zählt nur die inszenatorische Kraftanstrengung, es zählen nur die Muskelbewegungen der Fantasie. Ist die Scham dann genügend stark überrannt worden, kann es sein, dass man als toter Sieger die Arena des Lebens verlässt; aber wie oft bricht die Schale, wird der Kern geknackt, nicht von den anderen, sondern vom reinen Selbst, von den vitalen Eigenschaften. Plötzlich stehen wir nackt da, strecken das Hinterteil einer Peitsche entgegen und müssen bekennen, Schmerz sei Wollust für uns.

Fallbeispiel: Stellen wir uns einen Priester in einer kleinen amerikanischen Gemeinde vor. Er ist verheiratet, hat drei Kinder, eine ihn achtende und liebende Ehefrau. Er trägt das Haar pomadisiert, beträufelt sich mit einem herben Duft, der die meisten nicht überzeugt, wohl aber in Sicherheit wiegt. Hier ist einer ohne weltlichen Geschmack, aber er ist sparsam, so denken sie. Seine Predigten sind tolldreiste Aufschreie im Namen Gottes. Er prangert die Sünde an, benennt gar die Schlange mit Namen. Nur in der Ehe sei heil zu finden, so tönt es von der Kanzel. Die Homosexualität ist eine Krankheit. Diese Worte klingen der Gemeinde noch lange in den Ohren. Dann nach vielen Jahren, die Tage zeugten, die sich glichen wie ein Ei dem anderen, sodass nur Nuancen des Unterschieds wahrzunehmen waren, zumal feinste Haarrissunterschiede, die vielleicht nur seine Frau im ehelichen Bett wahrzunehmen in der Lage war, geschieht das Unglaubliche. Später wird sich seine Frau erinnern: Befeuchtete er ihr nicht manchmal das Haar, kämmte er es ihr nicht nach hinten, mit dem Hinweis, er möge sie ein wenig knabenhaft. Hätte sie nicht schon in solchen Momenten innehalten müssen. Aber nein, wer will sich schon gegen den Herrn versündigen, zumal einer seiner engsten Kontakte auf Erden, sie so gerne anal befriedigt. Nach all diesen Jahren plötzlich ereignet sich das für alle Unerwartete. Der Priester wird verhaftet. Er hätte noch minderjährigen Skateboardfreaks auf dem Parkplatz drüben am Fluss unsittliche Anträge gemacht. Einem hätte er gar ins Ohr geflüstert: „Ich will dich in den Arsch ficken.“ Die Bestürzung ist groß. Was ist nur geschehen? Wie konnte der Teufel sich seiner bemächtigen.

Da haben wir sie also, die sich im Kern des Pudels verbarrikadierende Scham. Als Pudel kam sie einfach besser an. Die Verstellung ist zur eigentlichen Lebensweise geworden. Aber da, wo einer nicht auf dem eigentlichen Platz steht, wird er zunehmend unruhiger und linst nach dem Selbst. Und irgendwann springt er dann. Sich selbst nicht leben zu können tötet. (Wie wahr doch ein solcher Satz leider werden kann, zeigt die Lebensgeschichte des Georges-Arthur Goldschmidt, der zum Opfer einer „Anklage ohne Schuld“ wurde, wie er es bezeichnet. Seine Familie musste aus Nazideutschland fliehen. Goldschmidt: „Der Familienname ist in ganz bestimmten Fällen eine Abgrenzung, wenn nicht eine Ausgrenzung, durch welche man bis in die Kindheit zurück verstoßen wird und die wiederum eine, wenn nicht überhaupt die Quelle des Schreibens ist. Schreiben wird so zum Versuch, die Namenlosigkeit unter dem Namen herauszuzeigen. Der Familienname ist eine Anklage ohne Schuld.“)

Die Scham, das ist eine der großen Themen im Werk von Georges-Arthur Goldschmidt wie auch in dem sehr klugen Frage-Antwort-Spiel „Des Pudels Kern“. Goldschmidt ist ein Sprachfetischist, ein Genauigkeitsarchäologe, der sich immer tiefer in die Schichten von Worten gräbt, bis er schließlich mit einer neuen Betrachtung aufwarten kann.

Schon die Begriffe Frage und Antwort sind ihm Reizungen für das Denken. Aus seiner Sprachgenauigkeit schlüpft auch stets die Gedankengenauigkeit. Er geht jedem Tritt nach, sondiert die Spuren.

Goldschmidt antwortet unter anderem auf die Frage „Warum schreiben Sie überhaupt?“: „Die Antwort ist fragebedingt und die Frage beruht auf der Vermutung einer sprachinternen Antwort, wo ja gerade das, nach dem gefragt wird, außerhalb des Sprachlichen liegt, sonst würde man nicht danach fragen.“ Da linst ihm Wittgenstein über die Schulter. Wie soll man die Sprache beschreiben? Wie soll man eine Landschaft beschreiben und gleichzeitig beschreiben, wie man beschreibt? Vielleicht hätte Wittgenstein eine solche Diskussion auch einfach mit einem Schürhaken beendet, zumindest aber mit dem Satz: „Zu einer Antwort, die man nicht aussprechen kann, kann man auch die Frage nicht aussprechen.“ Goldschmidt lässt sich da aber nicht beirren, gibt nicht auf, erkundet weiter.

Seine Helden springen ihm schnell ins Auge, da wären unter anderem Franz Kafka, Rousseau, Karl Philipp Moritz, Peter Handke, Nietzsche. Sie sind ihm immer wieder Nebenflüsse, immer wieder treibt er mit seinem Gedankenfloß ab. Die Beiläufigkeit einer Anekdote speist den großen Fluss. Aber ein Gläubiger mit gesenktem Haupt ist er in keinem Fall, im Gegenteil, der Künstler ist ihm suspekt, einer der sich „zelebriert“ mit wehenden Haaren, dem misstraut er schnell. Solche Verkleidungen kann er rasch entschlüsseln, die Frage lautet aber hier: Wessen schämt dieser sich? Vielleicht ist es die Sprachimpotenz, die ihn umtreibt? Vielleicht Sprachinzucht, die ihn nicht ruhen lässt?

Die Scham ist ein Verbrennungsmotor. Sie gibt uns Bewegung, lässt uns eifrig schauspielern, selbst Zugeständnisse können Lügen sein, um die Lüge zu bannen. Gleichzeitig verbrennt sie uns, martert sie uns, ist sie uns Qual und Hölle. So lernt man tanzen. Gezerrt wird an beiden Armen. Zwei Partner sind einfach immer einer zu viel. Was also mit ihr anfangen? Vielleicht muss man sie transportieren, sie übersetzen. Vielleicht kann man sie mit der Sprache bannen. Aber die Welt besteht immer aus zu vielen „vielleicht“, dem großen wagen Wort, dem Beckett sich so anvertraute, da es alles war, nur kein endgültiges Ziel, sondern immer nur das perfekte Sprungbrett hin zu anderen Worten, die wieder Worte zu anderen Worten führten und so weiter und so fort.

Vielleicht kann man die Scham mit der Sprache bannen. Vielleicht aber auch nicht. Was ist schon Sprache, da sind wir wieder beim altbekannten Problem. Wie in die Sprache eindringen?

Auch Goldschmidt findet im Dickicht dieses Dschungels nicht das Zentrum. Wie soll man inmitten von Insekten, Hitze und Bäumen wissen, wo sich das Zentrum eines solchen gigantischen Wuchses befindet. Nietzsche schrieb 1887 an den Pianisten Carl Fuchs: „In Deutschland beschwert man sich stark über meine Exzentrizitäten. Aber da man nicht weiß, wo mein Centrum ist, wird man schwerlich darüber die Wahrheit treffen, wo und wann ich bisher exzentrisch gewesen bin.“ Der Weg ins Zentrum bleibt unbestimmbar. Goldschmidt aber schlägt herrliche Schneisen, es ist eine Wonne, seinen Pfaden zu folgen. Die Luft wird für Momente ein wenig klarer, man sieht Ausschnitte des Himmels über sich. Er bietet keine Befreiung, wie sollte es die auch geben, da müsste er schon den ganzen Wald abbrennen, ohne zu wissen, wie groß der Wald überhaupt ist, aber er bietet Einsichten. Das ist viel. Mehr verlange ich nicht von einem Buch.

Schämen könnte man sich (muss man sich aber nicht, viel eher könnte man mit Stolz ausrufen: „Ich lese nicht“ und hätte somit vielleicht eine Scham für immer überwunden), wenn man Goldschmidt nicht liest, zumal ich hier nur die äußerste Haut des Textkörpers geritzt habe. Viel Blut habe ich nicht vergossen. Die Wunde scheint mir zackig, fast besitzt sie zufällig die Form eines Blitzes. Zwei bis drei Ausläufer zielen in die Vertikale und bieten Begriffe an: Scham, Familie, Sprache, Verkleidung. Viel mehr Worte sind es vielleicht auch nicht, die sich mir in den Kopf eingegraben haben. Aber die können reichen, sacken sie erst einmal, den Boden zu lockern und Hohlräume im System zu schaffen.

Waren Sie aufmerksam? Haben Sie es bemerkt? Da war wieder das Lieblingswort „vielleicht“ des Herrn Beckett. Es kündigt an: Die Reise geht weiter. Wir springen von Wort zu Wort. Wir haben die Mentalität von Beduinen, VIELLEICHT aber auch nur von Handlungsreisenden. Egal. Schämen sollten wir uns nicht dafür.

 

Guido Rohm

 

 

Georges-Arthur Goldschmidt: Des Pudels Kern. Gespräche mit Tim Trzaskalik, Matthes & Seitz 2008

 

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Kultur & Gespenster Nr. 5: Georges-Arthur Goldschmidt, Textem Verlag 2008

 

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